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2001-07-30

NACH DEN ZWISCHENFÄLLEN VON GÖTEBORG

Wir werden den Protest gegen die neoliberale Globalisierung nicht kriminalisieren lassen

Erklärung von ATTAC Frankreich

Als Bewegung, die sich die Bildung von politischem Bewusstseins in der Bevölkerung
zum Ziel gesetzt hat und zugleich aktionsorientiert ist, wird ATTAC Frankreich der
Frage der Gewalt bei Demonstrationen nicht ausweichen und sich in Schweigen hüllen.
Um unsere Position verständlicher zu machen, möchten zunächst einige prinzipielle
sowie einige aktuelle Fakten in Erinnerung rufen.
ATTAC ist eine Bewegung, die sich in den etwa 30 Ländern, in denen sie existiert,
dafür entschieden hat, gewaltfrei zu agieren, ohne sich jedoch von vorne herein den
Vorgaben von staatlichen Stellen, die den Dialog verweigern (wir weisen darauf hin,
dass dies in Schweden nicht der Fall war), zu unterwerfen. Diese Entscheidung steht
grundsätzlich nicht zur Disposition.
Göteborg ist von drei entscheidenden Fakten geprägt, wobei die beiden ersten außerordentlich
besorgniserregend sind:
· die Verwendung von Schusswaffen durch die Polizei bei einem Einsatz zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Das ist ein einmaliger Vorgang,
wie er seit Jahrzehnten in einem demokratischen Land nicht mehr vorkam;
· der Autismus der Kommission und der fünfzehn Regierungen, die trotz der
wachsenden Ablehnung der Folgen der neoliberalen Globalisierung durch die
Öffentlichkeit auf ihrem Willen beharren, weiterhin zügellos zu liberalisieren;
· schließlich das Ausmaß der Mobilisierung. Etwa zwanzigtausend Bürger und
Bürgerinnen aus vielen Ländern haben anlässlich dieser letzten europäischen
Ratstagung unter schwedischem Vorsitz demonstriert, in der übergroßen
Mehrheit gewaltfrei.
Wir sagen aber auch ohne Umschweife, dass wir uns mit aller Entschiedenheit von
jenen Gruppen distanzieren, die während des Gegengipfels das Stadtzentrum von
Göteborg verwüstet haben. Dieses Verhalten ist aus drei Gründen abzulehnen:
· erstens ist es ein Bruch mit der Praxis demokratischer Vereinbarungen, die
anlässlich der großen Aktionen gegen die neoliberale Politik der internationalen
und europäischen Institutionen getroffen werden;
· zweitens ermöglicht es durch die hohe Medienaufmerksamkeit, die Inhalte und
die politische Breite der Mobilisierung zu totzuschweigen;
· drittens – und das ist das schwerwiegendste – liefert es all jenen, die zurecht
die Ablehnung ihrer Politik in der Bevölkerung fürchten, eine Steilvorlage, mit
der sie die Proteste gegen eine zutiefst ungerechte Gesellschaftsordnung zu
kriminalisieren suchen. Dies gilt insbesondere für Regierungen und Unternehmerverbände.
Die schwedischen Behörden haben die Entwicklung in hohem Maße zu verantworten.
Sie haben sich nicht an alle Vereinbarungen mit den Organisatoren des Gegengipfels
gehalten. Die Einsätze der Polizei waren oft provozierend. Vor allem haben
sie auf Demonstranten schießen lassen. Wir verurteilen in aller Form diese „Premiere“
im Umgang mit Demonstrationen in Europa.
Letztlich sind es die Kommission in Brüssel und die Regierungen der Union, die die
Probleme schaffen. In dem Augenblick, in dem sich nicht nur auf der Straße eine
starke Opposition gegen die neoliberale Globalisierung artikuliert, hielten sie es in
Göteborg für richtig, zusammen mit George Bush eine neue Dosis Liberalisierungen
beim Agrarhandel, bei Dienstleistungen etc. bei der Ministerkonferenz der WTO in
Katar im November zu verlangen. Sie bestätigen damit voll und ganz jene, die sie in
ein Kategorie mit der G 8, dem IWF, der Weltbank, der OECD und der WTO einordnen:
die Architekten und Akteure der neoliberalen Politik – darunter die genannten
Institutionen – deren verheerenden Folgen sattsam bekannt sind.
Die europäischen und anderen Entscheidungsträger sind sich sehr wohl bewußt, wie
unpopulär ihre Politik ist. Indem sie ohne Rücksicht auf die Öffentlichkeit weiterhin so
tun, als ob nichts wäre, tragen sie aktiv zur Verschärfung der Spannungen und zum
Verfall der Demokratie bei. Außerdem schaffen sie dadurch erst die Bedingungen für
eine Kriminalisierung des Bürgerprotestes. Dieses verantwortungslose Leugnen der
Realität muss aufhören, stattdessen müssen sie endlich auf die Forderungen der
Gesellschaft eingehen.
All die sozialen Bewegungen, die davon überzeugt sind, dass eine andere Welt möglich
ist, und dass es auch höchste Zeit ist, sie in Angriff zu nehmen, werden auch in
den nächsten Monaten ihre Stimmen laut erheben. So in Genua im Juli beim G 8, in
vielen Städten der Welt anlässlich der WTO Konferenz im nächsten November und
während der belgischen EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte. Sie werden
dies mit Entschlossenheit tun, ohne sich durch Gruppen von Provokateuren noch von
staatlichen Instanzen, die ihnen das verfassungsmäßigen Recht auf friedliches Demonstrieren
bestreiten, als Geisel nehmen zu lassen.
ATTAC Frankreich dankt ATTAC Schweden sehr herzlich für die bemerkenswerte
Arbeit und für die Koordination, mit der die Bedingungen für den öffentlichen und
kompromisslosen Dialog mit den EU-Vertreten geschaffen worden sind. Wir bedanken
uns für die Qualität der Diskussionen, die den Gegengipfel geprägt hat und für
den Erfolg der gewaltfreien Demonstration (20.000 Personen am Samstag, 9. Juni),
die – wenn auch von einigen Medien verschwiegen – in Göteborg durchgeführt wurde.
Paris, 19. Juni 2001
Übersetzung aus dem Französischen: Peter Wahl