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2003-01-22

Die Mühen der Ebene

Die Wahrheit in den Tatsachen suchen


Einleitung

"Gutmütige Enthusiasten dagegen, Deutschtümler von Blut und Freisinnige von Reflexion suchen unsere Geschichte der Freiheit jenseits unserer Geschichte in den teutonischen Urwäldern. Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wäldern zu finden ist? Zudem ist bekannt: Wie man hineinschreit in den Wald, schallt es heraus aus dem Wald. Also Friede den teutonischen Urwäldern! Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings!" (Karl Marx)

Die Mobilisierung gegen den Weltwirtschaftsgipfel war ein Erfolg. Trotz totgesagter radikaler Opposition ist der Gipfel nicht laut- und widerstandslos über die Bühne gegangen. Obwohl in den letzten Wochen wieder Hunderttausende auf die Straße gingen, waren die über 20.000 in München alles andere als selbstverständlich. Weniger bloße Empörung über die Zustände als die Entscheidung sie nicht hinzunehmen, war für den Treck nach München notwendig. Selbstverständlich war auch nicht, daß ein Zusammenwirken zumindest einiger Kräfte möglich wurde. Die gemeinsame internationale Diskussion und Praxis, gehört genauso dazu wie der Kampf um die Freiheit der politischen Gefangenen.

Es ist einiges klar geworden, was wir ganz unabhängig von Mobilisierungen zu Bestandteilen unseres Kampfes machen müssen. Die ZuschauerInnenplätze müssen endlich verlassen werden!

Die notwendige Verknüpfung von einer umfassenden Diskussion und praktischen Schritten fand in der Anti-WWG-Kampagne dagegen kaum statt. Die Voraussetzungen unter den Beteiligten waren sehr unterschiedlich. Nur wenige Gruppen konnten aus ihrer jeweiligen Lage die Initiative und Verantwortung übernehmen. Aber auch die Gesamtheit der an den Treffen teilnehmenden Menschen und Gruppen hat wenig gemeinsame Mechanismen der Diskussion, Entscheidungsfindung und Umsetzung gefunden.

Auch heute, ein halbes Jahr "nach München" bereuen wir unsere Entscheidung nicht. Diskussion, Bestimmung und Entscheidung in der Mobilisierung standen immer auf unsicherem Boden. Nicht zuletzt deshalb wollen wir überprüfen, was wir uns vornahmen, was es gebracht hat und was nicht.

Die Asylgesetzänderung geht der Regierung leicht von der Hand. Die Stimmen, die dagegen laut werden, die auch die SPD als Heuchler und Brandstifter bezeichnen, sind spärlich. Die versprengten linksradikalen Grüppchen waren lange Zeit die Einzigen, die ernst machten mit Hilfe für Flüchtlinge und Gegenwehr gegen Faschisten. Trotzdem bleiben wir isoliert und bedeutungslos. Auch nach Mölln, als die Massen gegen Rassismus und Fremdenhass auf die Straße ging, spielten wir politisch keine große Rolle. Die staatliche Gewalt, der Rassismus in den Institutionen und in der Staatsräson, wird nicht wahrgenommen, geschweige denn bekämpft. Wenn, dann wird gegen die Gewalt des "Pöbels auf der Straße" demonstriert. Gegen die militärische Gewalt der deutschen Regierung brennt keine einzige Kerze.

Die Bundeswehr wird fit gemacht. Kriegsdienstverweigerung wird in der TAZ als unmoralisch diskutiert. Alle, zum Beispiel von der Anti-NATO-Bewegung erkämpften Haltungen gegen Krieg und Expansionspolitik verschwinden hinter der Irrationalität der Bürgerkriege und der neuen Moral des Imperialismus.

Verstehen wir was vorgeht? An Informationen mangelt es nicht. Um zu wissen, was in der Welt passiert, brauchen wir kein Geheimwissen. Den letzten TopSecret-Plan der NATO kennen wir nicht, was der Unternehmerverband oder das Innenministerium im Dunkeln munkelt, hat uns auch noch niemand verraten. Ansonsten ist alles zugänglich: Jeden Tag steht in der Zeitung, was Politiker, Militärs etc. vorhaben. Es reicht. Oder kommt es nur uns so vor, als wenn niemand ein Blatt vor den Mund nimmt? "Der Abstand im Lebensniveau von Sozialhilfeempfängern und Arbeitnehmern muß deutlicher werden, um die Leistungsbereitschaft aufrechtzuerhalten". Ist das keine Kriegserklärung? Wir verlernen, die Meldung der ersten Seite mit der auf der fünften zu verbinden. Es scheint so, je offener geredet wird, um so schwerer ist der Zusammenhang zu erkennen.

So wie die gesellschaftliche Situation ist, kommen alle wieder bei sich an. Alle müssen lernen selbst zu formulieren, was sie wollen. Consulting-Firmen und Lobbys für Protest sind das Geschäft der (Ohn)Macht. Opel stiftet die Kerzen und Cola-trinken ist "aus-länderfreundlich". Diejenigen, die versuchen sich gemeinsam zu organisieren, stehen neu vor allen Fragen, wie hier eine revolutionäre Bewegung aufgebaut werden kann. Und das meist ohne die Erfahrungen der letzten 20 Jahre. Kaum jemand ist in der Lage, sie für alle verständlich zu verallgemeinern.

20 Jahre alt ist auch der Satz: "Die Angst vor dem Faschismus ist schon Teil seiner Herrschaft". Das war Agitation gegen die Furcht, mit der eigenen Handlung die Macht herauszufordern. Sie besetzt das Denken und irgendwann auch das Fühlen. Mut, nicht nur als individuelle, sondern als politische Kategorie, ist gerade das, was wir gegenwärtig brauchen. Aber die Wahrnehmung ist eine andere. Die Ohnmacht pendelt zwischen den Extremen der Beschwörung des "4. Reiches" und der Überraschung, wenn grüne oder braune Schläger hinlangen, dann sind wir alle Opfer, dann war die Kampfansage doch nicht so gemeint.

Wird es einen politischen Kontext geben, in dem sich der Stoff aus erfahrenen Möglichkeiten durch den Kampf und Unzufriedenheit über den Zustand entzünden kann und nicht nur destruktiv ist? Diejenigen, die jahrelang Proteste organisiert, Kämpfe geführt, den Staat angegriffen haben, scheinen im Moment dazu nicht in der Lage zu sein. Zersetzung, Resignation und Rückzug bestimmen noch das Bild, obwohl es massig Menschen gibt, die einen ungebrochenen Kampfeswillen haben und immer neue, gerade jetzt, dazu kommen.

Am 10.4.92 erklärte die RAF eine Feuerpause: die vorläufige Einstellung ihrer - früher strategisch genannten - Angriffe. Im August nahm sie dann die "Eskalation" überhaupt zurück.

Der bewaffnete Kampf, bzw. die politische Möglichkeit, die er eröffnete, war für uns politisch wie aus der Biografie der Einzelnen immer ein Bezugspunkt. In unserem Begriff von revolutionärer Politik war der bewaffnete Kampf, weg von dem, was wir von RAF, Bewegung 2. Juni oder RZ hielten, eine strategische Option: eine grund-sätzliche Umwälzung, ohne die im Volk vorhandene Macht sie auch herbeizuführen, konnten wir uns nicht vorstellen. Über die politischen Linien, Methoden und Formen haben wir uns wahrscheinlich genauso gestritten, wie viele andere auch.

Die Entscheidung der RAF fiel in die Zeit der Mobilisierung. Diskutiert wurde sie innerhalb der Kampagnenstrukturen nicht. Wie vieles andere auch nicht. Die RAF hat aufgemacht, was hier und jetzt für alle die weiter wollen grundsätzlich ansteht: die Neuzusammensetzung emanzipatorischer Politik unter Einbeziehung aller Menschen, die für eine Befreiung aus den HERRschenden Verhältnissen kämpfen wollen. Sie hat aber auch die Zukunft revolutionären Kampfes in der BRD mit einer politischen Lösung für die Gefangenen verknüpft. Ausgemacht ist es noch nicht, ob die Genossinnen und Genossen aus der RAF mit ihrem Schritt eine Neubestimmung revo-lutionärer Politik voranbrachten. Sie haben den Raum geöffnet - und ganz offensicht-lich war es so, daß nur sie das konnten.

Auch um Überlegungen dazu dreht sich der anschließende Text.

Wir gehen von einem grundlegenden Zersetzungsprozeß aller organisierten Zusam-menhänge der revolutionären Linken aus. Das drückt sich auch im Zeitungssterben aus (LAND-UNTER, SÜDWIND usw.). Wir bedauern das, aber es wundert uns nicht. Wir brauchen - heute erst recht - keine Flugblattsammlungen, son-dern Zeitungen, die agitieren; die Diskussionen anschieben, Hintergründe ausleuchten, Zusammenhänge herstellen. Von alleine kommt das nicht. Die Redaktion als Layoutgruppe - da geht es letztlich einer Szene-Zeitung nicht anders als der PRAWDA: entweder eingehen oder sich selbstständig machen.

Wir denken nicht, der Zerfallsprozeß der Linken wäre schon vorbei, ausgestanden. Vielleicht sind wir noch gar nicht am Tiefpunkt angekommen. Vor uns liegt noch eine lange Strecke - eben die "Mühen der Ebenen", der Krebserei... Deswegen geben wir noch lange nicht die Hoffnung auf und in den Reihen derjenigen, für die Widerstand zwecklos ist, werden wir nicht zu finden sein. Für uns heißt das lediglich, daß schwer-wiegende Fehler gemacht wurden. Zwangsläufig kommen wir deshalb auch noch mal auf die Politik der 80er Jahre zu sprechen.

Allerdings: Im Starren auf diese Fehler, wie das Kaninchen auf die Schlange, wird die Kluft immer größer zwischen der Notwendigkeit einzugreifen und unseren realen Schritten. Klar, nach all den Jahren, in denen Mißtrauen schneller wuchs als die Zuversicht, miese Erfahrungen meist mehr Gewicht hatten als gute, wird es auch einige Zeit dauern, bis aus den "in Unordnung geratenen Parolen" wieder authentische Worte - und mehr noch: Taten - geworden sind, die unsere wirkliche Bewegung widerspiegeln.

Mit "In die Herzen ein Feuer" (Januar '92) versuchten wir einige Momente der Situation der revolutionären Linken zu skizzieren und unsere Lage in der veränderten Welt zu fassen. Außerdem begründeten wir darin unsere Entscheidung, uns für eine kräftige Mobilisierung gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München stark zu machen. Von dort aus haben wir weiter diskutiert.

Wir sind nicht sonderlich stark in Theorie und Analyse. Meistens gehen wir doch sehr pragmatisch an die Dinge heran. Das ist uns mehr als einmal auf die Füße gefallen. Unser Beitrag zur Diskussion blieb insbesondere in der Definition patriarchaler Unter-drückung in der Wechselbeziehung zu anderen gesellschaftlichen Unterdrückungs-verhältnissen fragmentarisch. Wir werden dem auch jetzt nicht abhelfen können. "Machtpolitik in den Foren gegen ausländische Gruppen", "Sexismus in der interna-tionalen Diskussion", "Keine Männergruppe auf dem Kongreß", "Autoritäres Auf-treten"... Wir nehmen uns die Freiheit, das auch und zu allererst als Widersprüche im Kampf um Befreiung zu diskutieren.

Wir danken allen Genossinnen und Genossen, die uns mit Kritik und Rat zur Seite standen. Es hat uns geholfen. Am vehementesten war vielleicht noch die Kritik, die sagte, "In die Herzen.." sei "unoffen". Aus den politischen Umbrüchen müßten sich alle neu orientieren und das Einzigste was klar sei, ist, daß alle miteinander reden müssen. Wir aber würden "Ergebnisse" schon vorweg nehmen.

Wir haben nichts gegen das Miteinanderreden - im Gegenteil! Aber: über was soll geredet werden, wenn die Gruppen nicht formulieren, was sie denken? Was ist offener als die eigenen Überlegungen zur Diskussion zu stellen? Nur so können sie kritisiert, umgestoßen oder verbessert werden.

Genau entgegengesetzt lautete die Kritik der fehlenden Konkretisierung. Was heißt das denn nun alles? Was sind die Schlüsse? Wir können unsere Einschätzungen, auch unsere Schlußfolgerungen noch nicht so verdichten, daß sie für eine vermeintliche Handlungsanleitung taugen: "Jetzt geht es um...". "Eure Sätze sind oft mit Begriffen gespickt, an denen eine ganze Diskussion und Entwicklung hängt". Das stimmt. Aus unserer Geschichte verwenden wir viele Begriffe quasi selbstverständlich. Nicht, weil wir die Notwendigkeit uns zu erklären, ignorieren.

Direkt oder indirekt setzen wir uns mit einer Vielzahl von Erklärungen, Papieren, Arti-keln, Briefen usw. auseinander. Allein schon wegen der Lesbarkeit, haben wir aller-dings im Text die Hinweise so gering wie möglich gehalten. Oftmals wäre es besser ei-nige Stellungnahmen sofort zu beantworten, aber meistens hat es unsere Kräfte über-fordert oder wir fanden keinen Ansatzpunkt. Wir wissen auch von den gefangenen GenossInnen, daß sie oft das Gefühl haben ihre Beiträge zur Diskussion verschwinden im Nebel des Schweigens, wo gerade jetzt produktiver Streit doch notwendig ist.

"In die Herzen ein Feuer" verdankten wir dem afroamerikanischen Revolutionär George Jackson. "Die Mühen der Ebene" sandinistischen Genossinnen und Genossen. In den Titeln der drei Abschnitte dieses Heftes zitieren wir Mao Zedong, Gudrun Ensslin und Nazim Hikmet.

"Von der Spaltung des Ichs zur Spaltung der Klasse zur Spaltung der Völker"

Das Krankwerden an den Verhältnissen - Die Gesundheitsreform und unser Widerstand. Vom Fall der Mauer zur Krise des EWS - Der Preis ist heiß: Deutschland ist Großmacht - Die Folter kehrt in die Metropolen zurück. Die große Koalition der Rassisten

Das Krankwerden an den Verhältnissen

Was unter den Nazis begonnen wurde, ist heute vollbracht. Sie hatten nicht nur die außenpolitische Konzeption "Heute Europa und Morgen die ganze Welt", und nach innen die blutige Repression und Ausmerze. Mit der behaupteten Aufhebung der Klassen in der "Volksgemeinschaft" (auch um der ArbeiterInnenbewegung ihre Identifikation, ihre "Orte" zu rauben) und der Einführung des Massenkonsums als Ziel - "jedem Haushalt eine Waschmaschine, Kühlschrank und einen Volksempfänger" legten sie die ersten Grundsteine für die heutige, metropolitane Konsumgesellschaft. Die Autobahnen, der Volkswagen und die Touristik (Kraft durch Freude/KdF) sind heute auf dem neuesten Stand. Wer mit dem Nazifaschismus ausschließlich Völkermord, Terror und blutige Herrschaft verbindet, übersieht die gesamtgesellschaftlichen Modelle, die er entwarf und die bis in unsere Tage hinein andauern.

Nach der StudentInnen-Bewegung Ende der 60er Jahre wurde diese Kontinuität deutlicher gesehen als heute. Unter dem Begriff "neuer", weil instituationalisierter (auch in den Köpfen verankerter) Faschismus, wurde der moderne und perfektionierte Autoritätsstaat gefaßt und entschieden bekämpft.

Insbesondere von der RAF und den Gefangenen war in den Mittelpunkt dieser Analyse die Organisation der Herrschaft, die Durchdringung der Gesellschaft durch den Staat - und da vor allem in der Verkürzung, die repressive Politik des Staates gestellt. Im Kern aber war das keine Analyse, die kurzfristige oberflächliche Erscheinungen plakativ denunzieren wollte. Der Ausbau der Sicherheitsorgane, die Verschärfung des gesetzlichen Instrumentariums zur Bekämpfung von fundamentaler Opposition gegen diesen Staat, wurden nur als sichtbarer, markanter Punkt verstanden, innerhalb einer qualitativen Veränderung des bürgerlichen Staates: Der Ausnahmezustand, der eine Ausnahme sein soll, ist zum Normalzustand geworden; er ist, weil legal und ohne Putsch inszeniert, über seine Normalisierung auch kaum noch als solcher erkennbar - die Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes sind in einem Ausmaß suspendiert, wie sie charakteristisch sind für undemokratische Zustände. Um es in der Begrifflichkeit der 70er Jahren zu sagen: "Reform-Faschismus".

Die HERRschaft ist in die Menschen der sogenannten ersten Welt eingedrungen, hat von ihnen Besitz ergriffen, und ist längst nichts mehr von "außen". Die HERRschaft über das Volk wird perfektioniert mit der Zustimmung durch das Volk. Die Verhältnisse sind uns aufgezwungen. Aber für das Mitmachen legt sich jede und jeder die Gründe selbst zurecht.

Die Kapitalisten beherrschten anfangs 12, 14, dann immer noch acht Stunden des Tages, - genau die Zeit, die in der Fabrik malocht werden mußte. Nach und nach wurde die Abhängigkeit durch die an die Fabrik angegliederten Wohnungen und einige soziale Absicherungen erweitert. Schließlich auch die "Freizeit" unterworfen: profitable Angebote (vom Puff bis zur Achterbahn), um am nächsten Tag wieder "fit" für die Arbeit zu sein. An die Kasernenhofdisziplin in der Fabrik der Kaiserzeit knüpften die Nazis mit Terror und Überwachung wieder an. Daß heute in den Fabriken Meister und Produktivitätskontrolleure ausreichen, um die Disziplin zu gewährleisten, ist nicht denkbar ohne 150 Jahre militärischen Fabrikdrill. Das Kapital hat den 24-Stunden-Tag erobert. Das ganze Leben ist dementsprechend organisiert. Kein Gefühl, keine Faser, keine Regung, die nicht vom Geben-Nehmen, Tausch und Profit dominiert wird.

Der Beton der Metropolenwirklichkeit ist das Subjekt-Objekt-Verhältnis: Wer erklärt wen zum Objekt, um sich selbst als Subjekt (in dieser Abgrenzung) sehen zu können? Aus Rassismen und Sexismen ist dieses Fundament gebaut. Der Kapitalismus macht uns alle zum Objekt. Das kapitalistische Unterdrückungssystem hob die alten nicht auf, sondern machte sie sich zunutze - solange es dem eigentlichen Zweck: Verwertbarkeit allen Lebens, nicht im Wege steht.

Das Subjekt-Objekt-Verhältnis macht das Ausspielen der Menschen gegeneinander erst möglich. Konkurrenz, Leistung und Hierarchie kommen aus diesem Verhältnis. Ohne es bewußt zu erkennen, können wir es nicht bekämpfen. Daher ist es auch in den revolutionären Gruppen so verdammt schwer diese inneren Machtverhältnisse zu brechen. Es fordert, eigene und Gruppenstrukturen bewußt zu machen und sie ins Verhältnis zur Gesellschaft zu setzen.

Wir kämpfen gegen ein System, daß uns alle umfaßt, miteinbezieht, ob wir wollen oder nicht. Jede Subjektwerdung, die nicht gegen, sondern mit anderen, die nicht individuell, sondern als Ziel kollektiv ist, stellt sich gegen die HERRschende Realität.

So ist die Selektion heute erster staatsbürgerlicher Akt; die Säuberung, die jeder und jede an sich und ihren Mitmenschen vornimmt. Wenn Politiker und Unternehmer, je nach Bedarf immer neue Menschengruppen mit neuen Arbeitsqualifikationen ausstatten, Arbeitskräfte aus unprofitablen Industrien ausmustern, weiß jede Frau und jeder Mann den "Sachzwang" zum eigenen Maßstab zu nehmen. Die Aussonderung fängt schon viel früher an: die zur Produktion Willigen und Verwertbaren an die Arbeitsplätze, die Unbrauchbaren und Verweigerer in die Psychiatrie, die Gefängnisse, die Erziehungsheime, Besserungsanstalten und Asyle... zur täglichen Erfahrung wird die Ein-, Aus- und Abgrenzung von Menschengruppen. Der eigene Wert wird über die jeweilige Stellung in der Gesellschaft bestimmt, das Selbstempfinden definiert sich nur noch über die selbst zur Richtschnur genommene Verwertbarkeit: bei Frauen zusätzlich die Reproduktionsfähigkeit, vom Kinderkriegen bis zur Beziehungsarbeit.

Diese (psycho)-kollektive Paranoia, vermengt sich mit der desolaten und aussichtslosen gesamtgesellschaftlichen Situation zu einem explosivem Gemisch. Plötzlich ist die Situation zum Zerreißen gespannt. Nach unten geht die Wut, nach oben fehlt der Mut. Mann ist wieder wer, Frauen Dreck. Das Oben und Unten, die Widerspruchslinien sind schon lange nicht mehr konstant, sie verlaufen kreuz und quer. So vielfältig wie die Waren sind die Trennungen und Spaltungen, die Anonymisierung und die menschliche Bezugslosigkeit.

Gerade noch privilegierte Deutsche gegenüber dem Flüchtling, dem die Sozialhilfe um weitere 25% gekürzt wird, zwei Sekunden später gegenüber dem weißen Mann das Letzte; als Bafög-Empfänger ärmer als die Meisten in der Gesellschaft, und doch gegenüber den obdachlosen Menschen in den Wegwerf-Slums reich; als Jobber Opfer der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, gleichzeitig Täter als weißer Rassist; als Genossin gerade noch gemeinsam mit Leuten aus dem Stadtteil gegen MieterInnenvertreibung und Sanierung kämpfend, gegen die selben BürgerInnen aber entschieden vorgehend, wenn sie die Flüchtlinge zu den Schuldigen für die Wohnungs-Misere machen.

Deutschland teilt sich nicht nur in Arm und Reich, sondern auch in Weiß - andere Hautfarbe, Frau - Mann, Kapitalist - ArbeiterIn, Rechts - Links, Wohnungsbesitzende - Obdachlose, Alt - Jung, Behindert - Nicht-behindert..., und seit kurzem: Ost - West.

Gerade die Kluft, die sich aus 40 Jahren völlig unterschiedlichem Leben und Gesellschaftsform ergeben hat, kann auch durch einen noch so gut sortierten Supermarkt nicht zugeschüttet werden. Die Menschen in der ehemaligen DDR blieben zumindest von der subtilen Inbesitznahme jedes/r Einzelnen durch die kapitalistische Diktatur in den letzten 40 Jahren verschont. Auch wenn sie unter ihrer Regierung und der Gesellschaftsorganisation zu leiden hatten; was jetzt über sie hereingebrochen ist, ist ein Schrecken unbekannten Ausmaßes.

Es wundert nicht, daß viele Jugendliche nach dem Fall der Mauer bruchlos von der FDJ zur "Deutsche Alternative" wechseln konnten. Genauso bruchlos ist dort die rassistische und autoritäre Haltung, während gleichzeitig bedauert wird, daß es die DDR-Zeiten nicht mehr gibt.

Die Tatsache, daß der Staat, der alles regelte, plötzlich zusammenbrach, durchzieht das gesamte Lebensgefühl. Den Neppern, Schleppern, Bauernfängern auf den Leim gegangen zu sein - nach '89 überschwemmten tausende von Versicherungsvertretern und Klinkenputzern die Ex-DDR - hohe Verschuldungen, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit machen die Aussichten für die Menschen nicht gerade rosig.

Heute, im "aufgeklärten" 20. Jahrhundert regiert überall die Gewalt. Zunehmende Gewalttätigkeiten kennzeichnen alle Beziehungen. Nach unten wird getreten. Die menschliche Regression zeigt sich in der Gewalt zwischen den Unterdrückten. Staatliche Brutalität wird kaum mehr wahrgenommen. Der moderne Metropolen-Mensch hilft sich in der gesellschaftlichen Atomisierung, indem er Warenbeziehungen, den Markt, in menschliche Beziehungen rückübersetzt, d.h. er personalisiert die über den Markt vermittelten Beziehungen zwischen den Tauschenden: er setzt Personen ein, die direkt verantwortlich gemacht werden. Zusammen mit der in den 80er Jahren erreichten Entpolitisierung und Haltung - was nützen die 1/2 Million Menschen in Bonn gegen Raketenstationierung und Wettrüsten ("wir regieren, die demonstrieren") - sind es die Zutaten für moderne Hexenverfolgung und Sündenbock-Mentalität: die wirtschaftliche Krise wird nicht mehr nach ihren Ursachen hinterfragt, sondern die Schuldigen werden ausgemacht und - natürlich - nebenan gefunden.

Die Welt teilt sich ein weiteres Mal. Das kriegen alle Völker zu spüren. Die Metropolen sind aus dieser Tendenz nicht ausgenommen. Die Armut, die Mini-Slums aus Zelten und Plastikverhauen am Rande der Hochhausschluchten, können alle die es wollen sehen. Die Mauern werden höher. Der Reichtum in den Wohlstandsinseln wird immer ungleicher verteilt. Die "neue Armut" ist die alte, aber keine sozialarbeiterische Erfindung. Neben der offiziellen Arbeitslosigkeit stecken zur Zeit in der BRD mehr als 7 Millionen in prekären Arbeitsverhältnissen, d.h. ohne Kranken- und Sozialversicherung, ohne Tariflohn und Rentenanspruch. In der alten BRD gab es 1990 erstmals über 4 Millionen SozialhilfeempfängerInnen. 200 000 sind obdachlos und leben auf der Straße. Tendenz steigend.

Die konservative Wende Anfang der 80er als Antwort auf die wirtschaftliche Krise war die Verordnung reaktionärer Modelle von oben. Rassistische Hetze gehörte von Anfang an zum Regierungsprogramm. Im Windschatten der geheuchelten staatlichen Empörung über die Straßenfaschisten werden Karenztage eingeführt, Gesundheitsreformen verordnet, die Tarifgebundenheit abgeschafft, mit toten Frauen als Gebärmaschinen experimentiert. Die faschistische Mobilmachung ist das Ergebnis der "geistigmoralischen Führung", mit der sich die CDU vor 10 Jahren an die Regierung setzte.

Die Gesundheitsreform und unser Widerstand

Zwischen harter Repression und permanenten Integrationsversuchen, Angeboten und unkonventionellen Maßnahmen wird versucht, der großen Implosion der Unzufriedenheit vorzubauen. Obwohl auch diese Unzufriedenheit zweischneidig ist. Sie paart sich mit der neuen Generation der UltraIndividualisten, hedonistisch und völlig desinteressiert an der eigenen Umgebung. Die demonstrative Gleichgültigkeit - trotz allen Wissens der Informationsgesellschaft - gegenüber den barbarischen Verhältnissen ist der logische und tiefgehende Anpassungsprozeß: allen ist klar, bewußt oder unbewußt, welche politische und persönliche Konfrontation und Konsequenz es bedeutet, würden die eigenen Bedürfnisse nicht ausgelöscht, sondern gegen die autoritäre HERRschaft gesetzt. Das ist die Schizophrenie, daß es noch nie soviel Analysen und Wissen vom Irrsinn der Konsumgesellschaft gab, die Anpassung aber in gleichem Maß anwächst. Alles um den Preis der "Versöhnung", Vernunft identisch ist mit Herrschaft, das "Ideal" mit der Zivilisation.

Augenscheinlich ist, daß in den meisten Bereichen - die in der, die ganze Gesellschaft erfassenden 68er Revolte im Mittelpunkt standen - die Veränderungen dem Rollback zum Opfer gefallen sind. Der emanzipatorische Aufbruch der StudentInnen veränderte die miefige, kleinbürgerliche und bis in die Knochen tief reaktionäre Gesellschaft nachhaltig. Für die CDU war das, wie der Wende-Vordenker Heiner Geissler sagte, schlimmer als der Nazifaschismus. Aber alles verkehrt sich ins Gegenteil, wird Waffe gegen die Menschen oder benutzt uns zur Stabilisierung, wird Teil des Wahnsinns, wenn die Verhältnisse nicht wirklich aufgesprengt werden. Aus "Freier Sexualität" wurde der Startschuß für die gewaltigste und brutalste Entmenschlichung: die Frau, das Sexobjekt, jeden Tag aufs neue. Es gibt keine andere Werbung als sexistische. Frau ist Ware und Verpackung.

An einigen Punkten hatten die Bewegungen der 70er und 80er Jahre letztlich doch einen Einfluß auf die Institutionen. Konzepte, wie z.B. akzeptierende Drogenpolitik werden heute - nach einigen Tausend Toten und Millionen Drogenabhängigen - ausprobiert: es frißt der Bourgeoisie die Kinder weg. "Schwulenkommissare" bei der Polizei und Gleichberechtigungsstellen in jedem Rathaus, während der gesellschaftliche Trend längst wieder in die entgegengesetzte Richtung geht. Wir kriegen ein Resultat aus vergangenen Auseinandersetzungen zu sehen.

Gesellschaftlicher mainstream ist die Reaktion. Und das, obwohl heute mehr Menschen in den staatlichen Institutionen sitzen, die mit fortschrittlichen Ideen, auch dem revolutionären Kampf in ihrer Biografie in Berührung gekommen sind. Von unten entwickelte und erkämpfte Werte wie Kollektivität, Selbstbestimmung und Autonomie werden vom Kapital verstümmelt und sinnentleert für Profit und Steigerung der Arbeitsproduktivität: "die kleinen Netze", Flexibilisierung in den Montagehallen mit größerer Selbstverantwortung der einzelnen ArbeiterInnen, teamwork und Großraumbüro, einschließlich Betriebspsychologen und monatlicher supervision.

Das Metropolenleben ist abstrakt. Alle Beziehungen sind über Märkte definiert: Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Supermarkt, Heiratsmarkt, auch den "Markt der Möglichkeiten". In dem Maß, wie die Personen unwichtig werden, zählt nur der Tausch. Die Deformation, die Verdinglichung von menschlichen Beziehungen als Sachbeziehungen, ist für den/die einzelne/n nicht leicht zu begreifen.

An diesen Verhältnissen erkranken immer mehr Menschen. Sucht, Selbstmord, Krankheiten, "verrückt werden", weggerückt sein von sich selbst, sind die unausweichlichen Folgen. Das ist das Elend, das kein Mensch aushalten kann. Entweder wir gehen vor die Hunde, oder wir leisten bewußten Widerstand. Er ist heute der einzige Schutz, der einzige Platz, an und durch den die Sinne zusammengehalten werden.

Leicht ist es nicht Widerstand zu leisten. Nicht nur, weil wir so unorganisiert sind, sondern weil die HERRschaft so mit der Gesellschaft verwoben ist. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, wie und wo anfangen oder aufhören.

Solidarität setzt voraus, erkennen zu können, daß du dich mit anderen in der selben beschissenen Lage befindest. Die Zergliederung der Gesellschaft macht das immer unmöglicher, und so auch gemeinsames Handeln schwerer. Solidarität wächst nicht einfach aus einer gemeinsam erlebten Realität - die gemeinsam gelebte fehlt auch meistens -, sondern muß durch Arbeit, Begriff und Aneignung neu definiert werden.

Wo die Leute materiell stehen, läßt noch lange keinen Rückschluß auf ihr Bewußtsein zu. In Mannheim-Schönau randalierten deutsche Malocher, wie anfangs auch "alteingesessene" ausländische Jugendliche gegen Flüchtlinge. Und nur feiner und gesitteter die aufrichtig demokratischen BürgerInnen in Hamburg-Uhlenhorst. Die Theorie, Menschen fangen an zu kämpfen, wenn's ihnen so richtig dreckig geht, war schon immer Scheiße. Wir kennen es als Argument gegen den revolutionären Kampf: hier geht's den Leuten doch viel zu gut, wir sind doch nicht in Afrika... Aber aus Hunger bringen sich die Leute nur gegenseitig um. Motor von Widerstand war noch nie allein die hundsmiserable Situation, sondern noch immer der Ausblick auf Besserung der eigenen Verhältnisse, auf Siegenkönnen, auf Hoffnung. "Brot, Land und Frieden", das war die Losung der Bolschewiki 1917.

Vom Fall der Mauer zur Krise des EWS

Europa - das Jagdrevier der Reichen? Diese Frage stellte treffend Anfang des Jahres ein spanischer Schriftsteller. Über 500 Jahre hat Europa andere Kontinente ausgeplündert, andere Völker ausgerottet, versklavt und ausgebeutet. Der Reichtum der weißen westlichen Metropolen ist auf Leichenbergen gehäuft - gestern, heute, morgen. "Die ungerechte Verteilung des Reichtums und die mangelnde medizinische Versorgung in Lateinamerika verursachen jedes Jahr den Tod von mehr als 800 000 Menschen" (FR).

Ausbeutung und Unterdrückung haben Hochkonjunktur - vor Jahrhunderten die christlichen Kreuzzüge, heute IWF und internationale Konzerne. Der Imperialismus ist nach dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Gesellschaftssystems in Osteuropas räuberischer als je zuvor.

Die drei größten Industriezentren - USA, EG-Europa, Japan - erwirtschaften mit weniger als 20 Prozent der Weltbevölkerung fast die Hälfte des Weltsozialprodukts. Diese Kluft zwischen arm und reich ist unüberwindlich. Die Teilung der Welt verläuft zwischen diesen wirtschaftlichen Machtblöcken und den ausgebluteten, vom Kapital ausgequetschten Kontinenten Afrika, Latein- und Südamerika, sowie Regionen Asiens und Osteuropas. Ganze Völker werden nur noch in den Kategorien des Ware-Wert-Systems gehandelt und fallengelassen. Die neuen Absatzmärkte, entstanden durch den Zusammenbruch im Osten, werden verteilt und produzieren neue Billiglohn-Länder, den Hyänen des Weltmarktes zum Fraß vorgeworfen.

Ganze Länder und Regionen z.B. in Afrika werden von den transnationalen Konzernen ausgesondert und auf die Müllkippe der Marktwirtschaft geworfen. In den Bilanzen und Berichten der Konzerne, von IWF und Weltbank, tauchen die durch koloniale Ausplünderung und Vertreibung, durch den Terror der korrupten nationalen Eliten erniedrigten Menschen nur noch als Verwaltungsproblem auf. Nutzlose, teure und überflüssige Esser, die, weil schon längst nicht mehr profitabel für die neokoloniale Wirtschaftsordnung, am besten still und leise krepieren. Strategisch nutzlos geworden nach dem Ende des Realsozialismus, werden die ehemals mit Krediten und Militärhilfe am Tropf des Westens gehaltenen reaktionären und antikommunistischen Regime, wie faules Obst weggeworfen und die gequälten Völker ihrem Schicksal überlassen. Hungerhilfe und Nahrungsmittellieferungen haben nur die Funktion von gigantischen Futtertrögen, aufgestellt und strategisch plaziert inmitten des afrikanischen Kontinents. Die Massenwanderung der Menschen, die Flüchtlingsströme aus Hunger, Elend und Bürgerkriegen werden ins Zentrum von Afrika gelenkt - weit genug entfernt von den europäischen Wohlstandsinseln, aber auch dem reichen Südafrika.

Auch die im Bereich des RGW entwickelten Strukturen internationaler Arbeitsteilung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit sind schlagartig zerfallen. Ganze Industriezweige werden buchstäblich von einen Tag auf den anderen ausradiert. Die kapitalistischen Metropolen, und hier an erster Stelle das neue Deutschland, sind zwar zur Honorierung von politischen Zugeständnissen, d.h. zu weiteren Krediten bereit. Eine deutliche Entschuldung findet aber nicht statt, auch keine koordinierte Wirtschaftshilfe. Jelzin saß beim WWG in München zum Schluß mit am Tisch. Mehr als Brotkrumen hat er trotz aller Unterwürfigkeit nicht bekommen. Die Zusage für die Modernisierung des russischen Atomprogramms begründet sich mehr mit der Furcht vor dem "Abwandern russischer Atomtechniker". Für Siemens/KWU ist es eine versteckte Subventionierung - bis auch in der BRD Atomkraftwerke wieder gesellschaftlich durchsetzbar sind.

In den osteuropäischen Gesellschaften explodiert die Armut. Das Bruttosozialprodukt Polens z.B. ist viermal so niedrig wie in Deutschland. Rumänien, Albanien und viele Länder der GUS stürzen auf das Level der Länder im Süden ab. Obwohl der kapitalistische Markt noch nicht vollständig durchgesetzt ist, sind die Ergebnisse der ersten Jahre von Privatisierung von Industrien und Boden und der Freigabe der Preise brutal: soziales Elend, wie bisher nur zu finden in den Slums der "3. Welt", Obdachlosigkeit, Hunger, weitgehender Zusammenbruch der ärztlichen Grundversorgung, Emporschnellen der Kindersterblichkeit, Massenarbeitslosigkeit und ein unwiderrufliches Ausgrenzen ganzer Regionen und großer Teile der Bevölkerung aus den Produktionsprozessen.

Alle Versprechungen einer schnellen Verallgemeinerung der "Sozialen Marktwirtschaft" auf westeuropäischem Niveau sind Betrug an den Menschen. Die fortschreitende Verarmung der Bevölkerung verbunden mit der Auflösung der planwirtschaftlichen Verteilungstrukturen, die zumindest eine stabile Versorgung mit öffentlichen Gütern gewährleisteten, werden die kommenden sozialen und politischen Konflikte in diesen Ländern bestimmen. So sind z.B. die aktuellen polnischen Bergarbeiterstreiks Überlebenskämpfe ganzer Landstriche gegen die Zerstörung und Einebnung durch die Wucht des eindringenden Kapitals. Gleichzeitig müssen sie sich auch gegen die brutale Sparpolitik des Regimes wenden, das von der Solidarnosc selbst an die Macht gebracht wurde.

Erst mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise kann das System die volle Dynamik des Weltmarktes entfalten. Der kapitalistische Weltmarkt schafft eine neue internationale Teilung der Arbeit. Große Flächen des Erdballs werden in bloße Rohstofflieferanten und Absatzmärkte verwandelt, während in anderen Regionen die industriellen Werkstätten konzentriert sind.

Kapitalismus im Weltmaßstab, das bedeutet: 770 Millionen Menschen sind unterernährt, 14 Millionen Kinder sterben jährlich an den Folgen des Hungers, 1,3 Milliarden Menschen haben keine regelmäßige Trinkwasserversorgung, 100 Millionen leben auf der Straße, im Abfall oder Slums, 880 Millionen können weder lesen noch schreiben. Laut Weltbank hat über 50 Prozent der Menschheit jährlich weniger als 500 Dollar zum Überleben.

Für Osteuropa heißt diese Perspektive des freien Marktes eine weitere Zuspitzung zwischen reich und arm, zwischen entwickelten Industriezentren und rückständiger Peripherie. Die meisten Länder werden in die immer größer werdende Gruppe der Länder ohne jede menschenwürdige Entwicklungsperspektive zurückfallen - eine weitere vom Kapitalismus geschaffene Wüste Sahara, die sich ausbreitet.

Das Ende des Ostblock beeinflußt auch die Neuordnung des Kräfteverhältnisses innerhalb des imperialistischen Westblocks. Das "amerikanische Jahrhundert" ist unwiderruflich vorbei. Deutschland/EG-Europa und Japan bestimmen zunehmend den ökonomischen Takt des Weltmarktes. Und durch die Wiedervereinigung gewinnt der BRD-Staat neue Macht und Einfluß. Wirtschaftlich, in der Stärke der Konzerne, der Produktivität und des Handels, ist die Verschiebung schon längst gelaufen.

Seit Anfang der 80er beschleunigt sich in den westlichen Industriezentren der Übergang zu einer neuen Entwicklungstufe in der Betriebsorganisation. Unter dem wachsenden Konkurrenzdruck des Kapitals hat sich in den letzten Jahren ein grundsätzlicher Wandel vollzogen. Das von Henry Ford erfundene Fließband, das Herzstück und Sinnbild der fordistischen Produktionsweise, und gleichzeitig das Symbol monotoner, entfremdeter und entmündigender Arbeitsverhältnisse in den Fabriken des 20.Jahrhunderts, wird immer mehr abgelöst.

Wofür noch vor 10 Jahren ArbeiterInnen in unterschiedlichen Fertigungsstufen mehrere Stunden brauchten, ist heute in einem Arbeitsgang durch programmierbare Industrieroboter, durch neue Produktions- und Fertigungstechniken auf Mikro-Chip-Elektronik in einer Fabrikhalle möglich. Durch rechnerintegrierte Produktionsabläufe ist eine umfassende Ökonomisierung und Steuerung des gesamten Betriebsablaufes, zuzüglich der Vernetzung mit an- und vorgelagerten Produktionsstufen machbar, wie es noch vor Jahren undenkbar schien. Gleichzeitig entstand eine zuliefernde Klitschenwirtschaft, die von dieser "neuen Fabrik" total abhängig ist. Auch wird der Anteil der in der Fabrik Beschäftigten vertraglich ausgelagert: Leiharbeitsfirmen, Montagekolonnen als Sub-Unternehmen.

Das Ergebnis sind Massenentlassungen, die Stillegung ganzer Produktionsstandorte einerseits, aber zugleich eine Intensivierung der Ausbeutung und Nutzung der Arbeitskraft. Das ist nicht nur eine Frage der Gewinne aus Rationalisierung und strikter Lohnpolitik. In der BRD ist die aktuelle reale Kaufkraft des Nettolohns auf dem Niveau der 60er Jahre!

War das Prinzip des Fließbands, der Taylorisierung des Arbeitsprozesses - das heißt: Reduzierung des Produktionsablaufes für den einzelnen Arbeiter und die einzelne Arbeiterin auf die stereotype Wiederholung eines einzigen Handgriffs im Akkordtempo - die totale Entmenschlichung, das Brechen jeden Willens, von Kreativität und eigenem Denken, basiert die neue Produktionsweise auf dem vermeintlich gegenteiligen Prinzip: den Einzelnen wird mehr Verantwortung übertragen. Statt der Wiederholung eines einzigen Handgriffs ins Unendliche ist es wieder ein Fertigungsabschnitt; statt Fließbandmonotonie gilt das "Produktionsteam" und kleine, spezialisierte Arbeitseinheiten.

Das Ergebnis ist profitabel: weniger Ausschuß, höhere Qualität, Steigerung der Arbeitsproduktivität, weniger Belegschaft. An dem grundsätzlichen Verhältnis Mensch - Maschine, Arbeiter/in - Kapitalist, ändert sich nichts. Vielmehr erhöht es die Identifizierung mit der Fabrik, der gefertigten Ware, weil den Arbeitenden das Gefühl gegeben wird durch die übertragene Verantwortung für eine Fertigungsstufe des Produktes eigentliche/r Produzent/in zu sein - im Gegensatz zur Reduktion auf einen Handgriff, bei der die Gestalt und der Produktionshergang der Ware nicht mehr erkennbar ist. Nachdem z.B. Volvo in Schweden als erste Autofirma das Fließband abschaffte, stieg nicht nur die Arbeitsproduktivitiät und -qualität, bei Umfragen sagte die noch verbliebene Belegschaft auch, sie würde sich mehr denn je mit dem Produkt der Arbeit, den Autos als "ihre" Autos identifizieren.

Das deutsche Kapital hat aufgrund der militärischen Beschränkung seit '45 schon immer auf die Effizienz seiner Wirtschaft gesetzt. Die politische Macht des "Modell Deutschland für Europa", der Export von Repressionstechnologien (Hochsicherheitstrakte, Fahndungsmethoden und Polizeitechniken) begründete sich auch immer auf die ökonomische Überlegenheit des BRD-Kapitals. Die "japanische Herausforderung", das "Europa der zwei Geschwindigkeiten" mit forciertem Ausbau des EG-Binnenmarktes und EG '92, waren Kampfparolen von Regierung und Kapital zur Durchsetzung des radikalen Umbaus der Industriegesellschaft, um die eigene Stellung in der Konkurrenz des Weltmarktes zu garantieren. Auch um den fortschreitenden Sozialabbau im Innern mit restriktiver Lohnpolitik und Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte (Aussperrung bei Streiks usw.) durchsetzen zu können. Das sogenannte "Lambsdorff/Tietmeyer-Papier" leitete 1982 den Wechsel zur CDU/FDP-Regierung ein. Das Begründungsmuster war die Notwendigkeit der industriellen Modernisierung, des Kahlschlags der Sozialleistungen um die deutsche Wirtschaft "wieder" an die Spitze zu bringen. Eine Politik, die Schmidt immer schon vorantrieb, zu der aber die SPD - innerlich aufgerieben durch die Stationierungs-Debatte, der repressiven Bekämpfung und gleichzeitig versuchten Integration der neuen Protest- und Widerstandsbewegungen, verfangen zwischen Gewerkschaft und dem Modernisierungsdruck des Großkapitals - nicht mehr in der Lage war.

Deutschland/EG-Europa, zusammen mit Japan, ist der Gewinner der innerimperialistischen Machtverschiebung. Der Anteil der USA an der Weltproduktion von Gütern und Dienstleistungen ist von 1950 bis 1980 von 40 auf 23 Prozent gefallen. Der weltweit größte Kreditgeber ist in den 80ern zur größten Schuldner-Nation geworden, die BRD-Wirtschaft hat die USA überholt.

Der Preis ist heiß:

Die BRD ist seit dem 9. November 1989 Weltmacht

Aber dieser Prozeß ist nicht widerspruchsfrei. Die Inbesitznahme der DDR war mit aller Regierungspropaganda und dumpfer deutschnationalistischer Gefühlsseligkeit von "einig Vaterland" ein einziges Krisenmanagement. Die Bundesregierung mußte mit der Konsequenz enormer ökonomischer Risiken die Zerstörung der DDR in kürzester Zeit durchsetzen: ein langsamerer Übergang, die Bildung einer möglichen Konföderation, hätte nicht nur in der DDR, sondern auch in der alten West-BRD, einen Prozeß gesellschaftlicher Veränderungen anstoßen und in Bewegung setzen können. Die Bonner Regierung wußte, was nicht nur die westdeutsche radikale Linke nicht denken wollte und konnte, und setzte mit der Entscheidung für die Währungsunion den entscheidenden politischen Fakt. Danach war alles gelaufen, war jeder Gedanke um eine wie-auch-immer Alternative zur BRD-Marktwirtschaft zwischen Westintegration und Warschauer Vertrag Träumerei. NATO- und WEU-Mitgliedschaft sind nach Abzug der Siegermächte des 2.Weltkriegs unumkehrbar imperialistische Realität. Der Preis der Beibehaltung und zukünftigen Ausweitung aller macht- und militärstrategischen Koordinaten aus über 45 Jahren Antikommunismus und reaktionärer Staatspolitik sind die anfallenden Kosten zur Eingliederung des Gebiets der Ex-DDR in den westdeutschen Wirtschaftsraum. Der Ausgleich durch Subventionen und Sozialausgaben wird für die nächsten 10 Jahre auf jährlich 150 Milliarden DM geschätzt. Da die Wirtschaftsstruktur in der ehemaligen DDR durch Treuhand und Marktwirtschaft fast vollkommen platt ist, geht das Geld zum Großteil in die Finanzierung der neuen Infrastruktur und sozialen Abstützungen, nicht in die Produktion. Der Anteil der verarbeitenden Industrie am Bruttosozialprodukt ging von über 55 Prozent 1989 auf 12 Prozent 1992 zurück. Das ist bewußte und gezielte Zerstörung der industriellen Struktur eines Landes.

Der Beinahe-Zusammenbruch des europäischen Währungssystems (EWS) zeigt z.B. nicht nur die wirtschaftlichen Probleme der EG-Länder Italien, Spanien und England usw, sondern ist Ausdruck der Krise des BRD-Imperialismus, der die "deutsche Einheit" allein nicht mehr bezahlen kann und versucht, die Kosten den anderen EG-Staaten aufzuzwingen.

Die vergrößerte Bundesrepublik ist keine "klassische" aggressive Militärmacht. Das war dieses Jahrhundert anders: die militärische Option, die waffenstarrende Drohgebärde als erste Reaktion, und die daraus folgenden Angriffskriege. Der deutsche Imperialismus hat aus zwei verlorenen Weltkriegen gelernt. Die Konsequenz ist ein genau abgestimmtes politisches, ökonomisches und polizeitechnisches Instrumentarium. Die BRD wird keinen Krieg im Alleingang anfangen. Das Primat des politischen Krisenmanagements ist keine Taktik, sondern Strategie des BRD-Staates seit '45. Kein Geschäft ist ihm zu schmutzig, wenn dabei Profit, Geld und Macht zu gewinnen ist. Die ehemaligen Schlachtfelder des Krieges sind heute die weltweite Blutspur des deutschen Kapitals: der Cabora-Bassa-Staudamm in Mozambique, Atomprogramme für Brasilien und Argentinien, deutsch-iranische Handelsabkommen unter Schah und Chomeini, Wirtschafts- und Waffenhilfe für die Türkei. Das sind nur ein paar Beispiele und Stationen, wo es um wirtschaftlichen Gewinn, Absatzmärkte für's deutsche Kapital, politische Einflußsphären, Sicherung imperialistischer Politik und Absicherung reaktionärer Regime und Diktaturen geht.

Deutsche Außenpolitik für die 90er, das ist ein Beratervertrag mit amnesty international und im gleichen Atemzug: "Außenpolitik ist abwägen zwischen Realpolitik und Menschenrechtsfragen" (Kinkel); daß ist, solange festzustellen, das wiedervereinigte Deutschland beansprucht "nicht automatisch" einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, bis dem Letzten klar ist, daß die BRD rein will und muß; das ist die Tatsache, daß Genscher nach Hitler der zweitbeliebteste Deutsche in Kroatien ist, die BRD die Anerkennung von Kroatien und Slowenien diktatorisch in der EG durchsetzte, aber militärisch, wenn überhaupt, nur im NATO-Verbund interveniert.

Weltneuordnung nach dem Ende des Kalten Krieges bedeutet auch, daß die UNO zum zentralen Instrument globaler Kontrolle für die imperialistischen Staaten wird. Der Golfkrieg war die erste Allianz der "neuen Weltordnung" gegen die Länder im Süden. Butros-Ghali, der ägyptische Architekt des imperialistischen Friedens von Camp David 1977 zwischen Ägypten und Israel, macht durch den Einsatz in Somalia und die Forderung nach einer NATO-Initiative im ehemaligen Jugoslawien die Direktive der neuen Kräftekonstellation deutlich: "Demokratie, Freiheit, Marktwirtschaft" ist der moralische Codex für militärisches Eingreifen. Dazu gehören Wirtschaftsblockaden und die Kürzung der vorallem in den 70er Jahren von den antikolonialen Befreiungskämpfen durchgesetzten sozial- und entwicklungspolitischen UNO-Hilfsprogramme.

In Somalia geht es in erster Linie um die Wiederherstellung westlicher Kontrolle in unmittelbarer Nähe zur arabischen Halbinsel und den jemenitischen Ölfeldern. Gleichzeitig ist es imperialistisches Krisenmanagement: jahrzehntelange Absicherung einer korrupten Diktatur, vor allem durch die BRD, die ihr "Mogadischu 1977" mit Polizeiausbildung und Krediten abbezahlte. Dazu Waffenlieferungen durch die USA als antikommunistischer Frontstaat gegen das sowjetisch unterstützte Äthiopien - nach dem Ende der Sowjetunion, dem Sturz von Mengistu, konnte das Land krepieren solange es berechenbar im Sinne des Westens blieb.

Der Bürgerkrieg hat dem Volk keine Lebensperspektive gegeben; die Rivalität der verschiedenen Parteien verhindert ganz offensichtlich eine gerechte Verteilung der Nahrungsmittel. Das gibt dem Imperialismus allerdings kein Recht zur militärischen Intervention. Die Medien zeigen somalische Kinder und lächelnde GI's und endlich kann die neue vaterländische deutsche TAZ-Linke ohne Wenn und Aber ihr eigenes Vietnam-Trauma vergessen machen und das US-Militär plus Fremdenlegionäre endgültig in ihr Herz schließen. Verursachte der Golfkrieg zumindest noch Unbehagen, gehört in Somalia die Solidarität uneingeschränkt den Besatzern. In einem Atemzug wird die Invasion im ehemaligen Jugoslawien gefordert.

Die Folter kehrt in die Metropolen zurück

Hungerkatastrophen, Flüchtlingströme, Bürgerkriege im Süden und seit dem Fall der Mauer auch wieder im Herzen Europas - der kalte Krieg ist heiß geworden. Nicht erst seit heute. Die Methoden der Nazi-Barbarei wurden nach dem 2.Weltkrieg nur kurzfristig aus Europa verbannt. Verschwunden waren sie damit nicht. Im Gegenteil: in den Kolonialkriegen wurde um so hemmungsloser gefoltert und gemordet. Der Weg der Foltertechniken läßt sich von den Nazis, über die französische Unterdrückung in Algerien, oder die britische in Burma und Kenia, die CIA-Counter-Insurgency und Massaker der US-Soldateska in Vietnam bis heute genau verfolgen.

Was in den vergangenen Jahrzehnten vorallem die KämpferInnen aus den bewaffneten revolutionären Gruppen in Westeuropa zu spüren bekamen: in den nordirischen H-Blocks, unter Franco's Diktatur und seinen Erben, oder die italienischen GenossInnen der BR in den Folterverhören nach der Entführung des NATO-Generals Dozier... wird immer mehr ausgeweitet und verläßt die Folterzellen der gefangenen Stadtguerillas. Stammheim, Tote Trakte, Isolationshaft mit 24-Punkte-Programm, GSG-9 und Todes-schußkommandos stehen seit 20 Jahren für den autoritären BRD-Staat.

Die staatliche Gewalt in der Gesellschaft explodiert und bestimmt immer mehr das Bild auf den Straßen und den Takt der Entwicklung. Erinnern wir uns an die Vorfälle in Bremen, wo auf den Bullenrevieren Flüchtlinge verhört und brutal zusammengeschlagen wurden. Auch in Frankfurt wurden ausländische Menschen mit Elektroschock-Geräten von den Bullen gefoltert - aus einer kleinen Notiz in der FR -, außer dem üblichen Disziplinarverfahren ohne Folgen. Erinnern wir uns daran, wie die Bullen in Hoyerswerda zugeguckt und in Rostock abzogen, um das Wohnheim zur Brandstiftung freizugeben. Die Knäste sind längst voll von Menschen aus den Ländern im Süden, die, um dem Elend zu entkommen und ein paar Mark zu verdienen, versuchen als lebendige Rauschgift-Container die Mauern der Festung Europa zu überwinden. Soldiermäßige Bulleneinheiten, USK'ler als paramilitärische Trupps, die keiner normalen Bullenführung mehr untergeordnet sind, kennen wir nicht erst seit München. Nicht nur die ausländischen GenossInnen haben sie stark an die Folterknechte und Aufstandsbekämpfungs-Einheiten in ihren Heimatländern im Trikont erinnert. Genossinnen aus der Türkei waren überrascht über die militärische Panzerung und den Drill deutscher Bullen - bei ihnen sind die Bullen mörderisch, aber lange nicht so generalstabsmäßig organisiert in Ausrüstung und Auftreten. Aber nicht nur die radikale Linke kriegt ihre Brutalität immer mehr zu spüren. Das sog. "Junkie-Jogging" in der Taunusanlage Frankfurts, das Jagen und Vertreiben der ohnehin Geschwächten aus dem Innenstadtbereich bis zur totalen körperlichen Erschöpfung, die vernichtende Vorgehensweise gegen Flüchtlinge, spezialisierte BGS-Greiftrupps zur Abschottung der neuen Ostgrenze, die Faschisierung der Bullen selbst, das "wir haben Auftrieb und können uns alles erlauben"-Gefühl der Faschisten in den verschiedensten Stellen des Apparats, gehört genauso zum BRD-Staat des Jahres 1992 wie die ersten Zerstörerverbände der Bundesmarine nach dem Ende des 2.Weltkriegs in der jugoslawischen Adria.

Aber die Gewaltverhältnisse werden nicht nur aus dem nationalen Rahmen bestimmt. Das internationale Kräfteverhältnis, der Wohlstand in den imperialistischen Metropolen und die Armut in den ausgebeuteten Kontinenten, hat sich verschoben. Genauso wie auch hier die Trennungslinie zwischen arm und reich sich den gesellschaftlichen Abgründen in der "3. Welt" immer mehr angleicht, genauso verändern sich auch die innenpolitischen Repressions- und Herrschaftstechniken.

Was früher den autoritären Kompradoren-Regimes "vorbehalten" war: der fortentwickelte Kolonialstatus mit paramilitärischen Todesschwadronen, Massaker und Folter, Erpressung und Bestechung um die Menschen für den Profit auszuquetschen, für den Export buckeln zu lassen - all das kehrt aus der Verschlechterung und Brutalisierung der Lebensbedingungen der modernen Industriegesellschaften ins Machtzentrum des weißen, westlichen Imperialismus zurück.

Die große Koaltion der Rassisten

Auf dem internationalen Gegenkongreß in München tauchte die Frage nach unserem Verständnis von Volk auf. Während einige der GenossInnen aus dem Trikont einen emanzipatorischen Volksbegriff haben: Volk, das sind alle unterdrückten Menschen, tun wir uns schwer damit. Volk, das sind für uns die Bilder der Massenaufmärsche im 3.Reich, oder das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Volk = deutsch, und deutsch ist das, was uns schon immer verhaßt war: Preußische Disziplin, Treten und getreten werden, Perfektionismus, Ausmerze alles von der "Norm abweichenden". Deutsch ist aber auch: Daimler Benz, Krupp, Siemens, Stammheim und Mölln. Dieser Volksbegriff ist nationalistisch - Volxküchen und Volxsport gibt's aber trotzdem.

Die GenossInnen aus den anderen Ländern beziehen sich auf eine lange Tradition von Volkskämpfen. Bei uns ist dieses historische Gedächtnis eingeäschert durch die Nationalsozialisten. Eine revolutionär verstandene nationale Identität kämpfender Völker ist nicht übertragbar. In Deutschland ist "nationale Identität" heute nur reaktionär, die Identifikation mit dem Imperialismus - das Herrenvolk. Das war nicht immer so und die Gleichung Volk = Nation hatte vor der bürgerlichen Revolution auch in Deutschland keine Bedeutung. Volkskämpfe waren Kämpfe des Volkes gegen die Herrschenden, wie der Bauernkrieg im 16. Jahrhundert ("die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte"). Während sich die französische Bourgeoisie mit "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" auf den Lippen durchsetzte und mit Guillotine und Menschenrechten das Geschäft beleben wollte, kam die Bourgeoisie in Deutschland völkisch und als Herrenmenschen daher. Mit deutschem Blut auf deutschem Boden mußte der Einheitsstaat geschaffen werden und am deutschen Wesen sollte die Welt genesen. Eine Nationwerdung durch Abgrenzung. Eine andere "nationale Frage" hat es in Deutschland nie gegeben.

In Deutschland/EG-Europa ist immer noch ein großer Teil des Volkes in die gewinnbringende Weltwirtschaftsordnung profitabel eingebunden; nicht nur unterdrückt, sondern das HERRschende Systems tragend, bereit die sich daraus ergebenden Privilegien zu verteidigen. Aber auch der Griff von Volk zu Klasse ist hier nicht mehr als ein vermeintlicher Zaubertrick. Als Erklärung unserer Kampfbedingungen taugt er nicht. Benutzen tun wir den Begriff Volk trotzdem und meinen damit die Gesamtheit der Unterdrückten gegen die Macht. Auch, weil uns der traditionelle Klassenbegriff mit Proletariat, Kleinbürgertum und Bourgeoisie nicht reicht, um die Widersprüche zu begreifen. Schon gar nicht, können wir heute mehr das "revolutionäre Subjekt" aus der Stellung im Produktionsprozeß ableiten. Die Fragmente zu einer "vertikalen Klassenanalyse" von Jan-Carl Raspe helfen uns da weiter. Die bürgerliche Gesellschaft ist horizontal in oben und unten, in die Klassen der Produktionsmittelbesitzenden und Arbeitskraftverkaufenden usw. gespalten. Aber die Gesellschaft ist um ein Vielfaches mehr zersplittert. Die Widersprüche gehen auch quer durch alle Klassen. Das wird heute immer deutlicher. Wie soll es da möglich sein, in der Metropolengesellschaft ein per se oder objektiv revolutionäres Subjekt auszumachen? Es gibt nur die Klasse all derer, die sich im Kampf treffen, weil sie etwas anderes und anders wollen. Eine Klasse also, die sich nicht horizontal aus der untersten Schicht formiert, auf die weitere folgen, sondern sich vertikal durch die Gesellschaft mit Menschen aus allen Schichten/Klassen zusammensetzt. Der Ort, wo diese Klasse überhaupt nur existiert ist der Kampf und das soziale Terrain, das sich im Kampf herausbildet. Darin spielt es keine Rolle mehr, wo jemand hineingeboren wurde. Die bourgeoisen oder kleinbürgerlichen Dreck können alle loswerden und die Macken im Denken und Handeln, den "ProletarierInnen" so drauf haben, prädestinieren sie auch nicht gerade für den Kampf.

Es ist kein Zufall, daß die Frage nach dem Volk in der Linken gerade jetzt verstärkt diskutiert wird. Auf leisen Sohlen daher kommt auch bei der radikalen Linken das Bedürfnis nach nationaler Geborgenheit. Das Chaos, das weltweit regiert und die Undurchschaubarkeit schaffen Bedarf an klaren Fronten und Zugehörigkeit. So ganz vorbei zieht der reaktionäre Wind also auch an uns nicht. Manche fallen von einem Extrem in`s andere. Verwundert darüber, beim Ertasten der Welten hinter dem Rand des Tellers, nicht nur Graues, Kaputtes und Sinnentleertes zu entdecken, sondern denkende, fühlende und z.T. sehr radikale Menschen, mit Spaß und Fröhlichkeit, geraten viele in Verzückung. Otto und Ottilie N. werden rehabilitiert. Entweder das Volk ist nur scheiße - rassistisch, spießig, sexistisch, dumm und stumpf -, oder es ist nur toll, kämpferisch, unheimlich radikal und aktiv.

Die Frage nach dem Volksbegriff ist für uns nichts theoretisches. Wir übersetzen sie mit der Frage inwieweit die revolutionäre Linke überhaupt gesellschaftlich denkt und handelt.

Aus "Dem Volke dienen!" der 70er Jahre wurde eine Abgrenzung, um sich selbst nicht vom HERRschenden Konsum und der "Uns ging's noch nie so gut wie heute"-Bierseligkeit einlullen zu lassen und um eine eigene revolutionäre Identität zu entwickeln. Die bloße Ablehnung alles HERRschenden, also allem was existiert, reicht nicht aus. Der Blick verengt sich auf die eingeschränkte Wahrnehmung: "wir" gegen den "Apparat".

Diese Starrheit und sich nicht in Widersprüchen bewegen zu können, ist ein Grund für unsere derzeitige Bedeutungslosigkeit. Natürlich: wäre die revolutionäre Linke stärker, könnte sie ganz anders die Gesellschaft polarisieren. Alle müßten sich bewußter entscheiden. Die beifallklatschenden BürgerInnen wie die Demonstrierenden gegen die Änderung des Art. 16. Dazu gehört aber auch, daß gesellschaftliche Bedürfnisse von uns nicht formuliert werden. D.h. allerdings nicht, dem alten, linken Argument: den Rechten keine Themen zu lassen auf den Leim zu gehen, wie es jetzt wieder gemacht wird. Nur weil Faschisten und Rassisten wieder mit der Blut-und-Boden-Ideologie werben, kann das noch lange nicht heißen, daß wir uns damit beschäftigen müssen. Es gibt Themen, die sind und bleiben besser auch ihre.

Während von staatlicher Seite und bürgerlichen AntirassistInnen die Kahlköpfigen zur Wurzel allen Übels gemacht werden, schaffen wir es nicht, den alltäglichen und staatlichen Rassismus in den Vordergrund zu rücken.

Der institutionelle Rassismus, der sich z.B. in der Weltwirtschaftsordnung ausdrückt; "die Bananenbieger da unten können halt nicht wirtschaften" als Legitimation für die Ausbeutung und den Profit, den der reiche Norden aus dem Süden zieht. Oder die ständig verschärfte Abschiebepraxis, rassistische Bulleneinsätze in Flüchtlingslagern oder täglich auf Deutschlands Straßen... All dies ist in der momentanen großen Toleranzbewegung kein Thema.

Die Lichterkette in München konnte am gleichen Abend stattfinden, als in Bonn der rassistische Asylkompromiß zustande kam, ohne daß zwischen beiden Ereignissen ein Zusammenhang hergestellt wurde. Auf dem allseits gefeierten "Heute Die - morgen Du" Rockkonzert in Frankfurt (allein der Titel ist die Fälschung: es ist eben genau nicht so!), konterte der Moderator den einzigen Bezug zur rassistischen Regierungspolitik damit, daß es nicht um Schuldzuweisungen geht.

Der aggressive Rassismus wird zunehmend aufgesaugt und institutionalisiert. So z.B. wenn Engholm angesichts der Pogrome sagt, man könne hier nicht Politik gegen das Volk machen, oder indem die sog. großen Volksparteien zunehmend Inhalte der REP's oder anderer brauner Parteien übernehmen. Dazu gehört auch, wenn der grüne Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag vorschlagen kann, während einem anzustrebenden verkürzten Asylverfahren ("6-Wochen-Regelung") sollten die Flüchtlinge die Lager nicht mehr verlassen dürfen und das ganze dann als Versuch verkauft, den Art. 16 zu retten.

Dreck kommt hoch. Er war die ganze Zeit da. Nur ein Vorfall: ein Manager der DASA (Luft-und Raumfahrtkonzern von Mercedes-Benz) hißt die Reichskriegsflagge - und ist auf seinem Posten nicht mehr haltbar. Er entschuldigt sich, er hätte nicht gewußt, daß die NeoNazis diese Fahne "mißbrauchen". - Das stimmt eben nicht. Die NeoNazis wie der Manager bekennen sich vorbehaltlos zu den imperialistischen Eroberungskriegen, die mit dieser Fahne unternommen wurden. Der private Fahnenappell des Managers und die Firmenpolitik der DASA sind eins: Nur öffentlicher Druck erzwang die Absage der V(ernichtungs)-Waffen-Feier in Peenemünde. In Nordhausen, wo diese Waffen von KZ-Häftlingen in Stollen gebaut wurden, zerfällt die Gedenkstätte und werden die Tafeln, die an den Todesmarsch erinnern abgeschraubt. Die touristisch interessanten Wanderwege im Harz liegen auf seiner Strecke. Das stört.

Bedeutung und Wirkung einer antirassistischen Bewegung wird nicht zuletzt davon abhängen, ob sie die verschiedenen Gründe und Spannungsverhältnisse - z.B. zwischen Staat und Faschisten - versteht und daraus handelt.

Um uns über die Entwicklung Staat - faschistische Mobilisierung von unten klarer zu werden, haben wir uns eine Begrifflichkeit und Analyse aus den 70er Jahren herangeholt: "Neuer Faschismus", "Der Faschismus, der nicht den Staat erobern muß, weil er dort schon sitzt". Diese Analyse versuchte eine Entwicklung innerhalb der führenden kapitalistischen Staaten zu fassen, die insbesondere in den 70er Jahren sichtbar wurde. Im Vorweggriff des durch Krise und allgemeinen Aufruhr erzwungenen Ausnahmezustands setzte der Staat eine Politik der Inneren Sicherheit durch, die diesen Ausnahmezustand präventiv einführte und institutionalisierte. Ideologisch abgesichert mit Begriffen wie "wehrhafte Demokratie" und der Beschwörung "Weimarer Verhältnisse" abwehren zu wollen, wurde die Prämisse jeglicher Politik die "Gefahrenabwehr" genannte (präventive) Konterrevolution. Die Auswirkungen dieser Entwicklung waren in den 70er Jahren insbesondere im polizeilichen Bereich zu sehen, dagegen mobilisierte sich auch der meiste Widerstand (Berufsverbote, Sicherheitsgesetze usw.), meinte aber nicht nur diesen.

Spätestens seit der Großen Koalition zwischen CDU, CSU und SPD in den 60er Jahren ist immer auch die Sozialpolitik ("Konzertierte Aktion") mit der "Gefahrenabwehr" begründet worden, um "Unruhe" oder ein "Abwandern nach links" zu verhindern. Das hat sich bis heute nicht geändert. "Neuer Faschismus" war ein Begriff, um diese Entwicklung zu fassen. Andere Linke, die sich insbesondere gegen einen daraus ableitbaren "Antifaschistischen Widerstand" wehrten, aber diese Entwicklung auch sahen, faßten das unter dem Begriff "Sicherheitsstaat".

Die, die jetzt in Wiedervereinigung, Straßenfaschismus, Asylgesetzgebung und Grundgesetzänderung für weltweite Bundeswehreinsätze das "4. Reich" endgültig kommen sehen, nehmen wir ernst in ihrer moralischen Empörung und Erinnerung an 1933. Politisch aber - vom Wesen des imperialistischen BRD-Staates - haben sie nichts begriffen. Darüber war schon Stammheim, GSG-9 und die Trakte nicht zu begreifen, weil das permanente Warnen vor der braunen Machtübernahme durch Strauß&Co, das Wedeln mit Grundgesetz und Einklagen "demokratischer Kultur" auch nur den imperialistischen Normalzustand legitimierte. Die Beschwörung des "4. Reiches" erklärt nicht die Tatsache von 300 000 am 8.11. in Berlin, die auch wegen Weizsäcker und der Regierung so viele waren; es erklärt auch nicht die Warnungen des Großkapitals vor zuviel offenem Fremdenhaß zum Nachteil der deutschen Wirtschaft und die 100 000 DM von Opel für die Opfer von Mölln; es macht die deutsche Jugoslawien-Politik, die Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze durch die Kohl-Regierung oder die Rolle der BRD im Golfkrieg nicht begreiflich.

Die zur Zeit anwachsende massenhafte faschistische Bewegung gefährdet diesen Staat nicht. Er muß nicht, wie 1933, durch eine faschistische Machtübernahme für imperialistische Politik fitgemacht werden. Der Straßenfaschismus beschleunigt die reaktionäre Staatspolitik im Innern, die Perspektive der Machteroberung aber hat er nicht. Frey und Schönhuber brauchen nicht erst im Kanzleramt sitzen; der ausgehandelte "Asylkompromiß" verlegt die Schlägerbanden an die Grenzen Europas und macht sie zur Rampe. Das trifft Millionen. Aber eins ist gleichgeblieben seit '33: die Perfektion und Perfidie der bürokratischen Abwicklung.

Der Prozeß gegen den alten Antifaschisten Gerhard Bögelein und seine Verurteilung zu lebenslänglicher Haft steht auch in dieser Kontinuität. Jeder SS-Sturmbannführer und seine Witwe, jeder Beamte und Blutrichter hat Rentenanspruch. Jede Teilnahme an Erschießungskommandos wird als Arbeitstag, jede Unterschrift unter ein Todesurteil als Stundenlohn ausgerechnet - polnische ZwangsarbeiterInnen, Sintis und Romas kriegen nicht mehr als ein pflichtgemäßes Bedauern.

Von Westpolitiker und Medien wird behauptet, der ganze neonazistische Mist sei mit dem Fall der Mauer vom Osten her über uns hereingebrochen. Schuld daran sei "4o Jahre Rote Diktatur". Die rechte Mobilisierung und deren Terror läßt sich weder auf die alten noch auf die neuen Bundesländer eingrenzen. Im Westen konnten sich schon immer rechte und faschistische Parteien, bis hin zu Wehrsportgruppen organisieren.

Die gemeinsame Wurzel von Ost und West, das Nazideutschland wirkte aber überall, auch im Osten. Das Volk hat sich nicht selbst befreit. Es war die Rote Armee, die das Hakenkreuz vom Reichstag holte. Das hat auch die Entwicklung in der DDR geprägt. Es war kein Befreiungsprozeß von unten. Antifaschismus entwickelte sich zur Staatsideologie. Allerdings in der Verkürzung auf die ökonomische und politische Struktur des Faschismus. Die wurde in der DDR beseitigt. Eine wirkliche in die Tiefe und das Volk gehende bewußte Aufarbeitung des Faschismus hat es nicht gegeben. Einer der entscheidensten inneren Gründe für die Niederlage der deutschen ArbeiterInnenbewegung gegen den Faschismus, die autoritäre Struktur und fehlende Selbständigkeit an der Basis, wurde im staatlichen Aufbau der DDR nicht aufgehoben.

Die sehr differenten Kontinuitäten in Ost und West vereinigen sich passend im heutigen, reaktionären Großdeutschland. Da wächst zusammen, was schon immer zusammen gehörte.

Die Entwicklung im Westen der vergangenen zehn Jahre zeigte schon genau in diese Richtung. Die ideologischen Brandstifter sitzen an Universitäten und in den Redaktionen der großbürgerlichen Zeitungen. Es war die FAZ, die die "Historiker-Debatte" lostrat. Wäre die rassistische und deutschnationale Mobilisierung denkbar, ohne das schon vorweg Hitler, der Welteroberungskrieg und der Holocaust zum Bagatellfall der Geschichte erklärt worden ist? Zwischen der "Auschwitz-Lüge" und dem "europäischen Bürgerkrieg" Ernst Noltes ist kein großer Unterschied. Die akademischen Verharmloser sind sich allemal einig darin, daß diese Geschichte kein Hinderungsgrund sein darf für die großdeutsche Wiedergeburt.

Von der "geistig-moralischen-Wende" 1982, über den Besuch auf den SS-Gräbern in Bitburg 1985 bis zur mehrjährigen Asyl(brandstiftungs-)debatte, hat der Staat das heutige Mord-Klima geschaffen. Blüm's Satz an den Särgen der Opfer von Mölln, "wir wollen keine alten Nazis, wir wollen keine neuen Nazis" ist kein Widerspruch dazu. Die regierungsamtliche Propaganda meldet sich erst dann zu Wort, wenn nichtdeutsche Geschäftsleute zusammengeschlagen, oder ArbeitsmigrantInnen, die pünktlich ihre Steuern zahlen, ermordet werden. Aber nicht nur das. Auf die Expansion im Namen der "Menschenrechte und der Demokratie" ist die deutsche Regierung und ihr Anhang aus. Auch das ist institutioneller Rassismus: die "hitzigen arabischen Völker" müssen im Golfkrieg durch westliches Einschreiten gezähmt werden, die "plündernden, unfähigen Somalis" durch die Bundeswehr zur Vernunft gebracht werden.

Viele unserer Flugblätter und Texte, befassen sich seitenlang damit, aus welch großer materieller Verelendung heraus die Leute "den rechten Rattenfängern hinterherlaufen". Wirtschaftliche und soziale Not sind nur ein Moment der aktuellen rechten Bewegung. Die Gründe für die Pogrome von unten und die rassistische Mobilisierung von oben sind weitaus vielfältiger. Es geht auch um Besitz- und Wohlstandswahrung, um die Verteidigung von in aller Welt zusammengeklauten materiellen und kulturellen Werten.

"Wir sind an einem Scheideweg in einem Europa, das im Begriff ist, ein riesiges Kaufhaus zu werden. Entweder füllt es endlich seine hochtrabenden humanistischen Ansprüche mit Leben, oder es muß den Mut haben, sich zu dem zu bekennen, was in seinem Innersten ist: eine patriarchalische Sklaven-Demokratie, wie das antike Griechenland." (Muepu Muamba)

Wie tief der Rassismus sitzt, zeigt sich beim alten Kinderspiel: "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann", oder dem völlig unreflektierten Sprachgebrauch: "den schwarzen Peter zuschieben", "Mohrenkopf" und "Negerkuß" usw. Bei "bis zur Vergasung" z.B. ist die nationalsozialistische Herkunft klar zu sehen. Aber rassistische und sexistische Denkweisen sind viel älter. Die Mythen und Religionen der Menschheitsgeschichte sind voll davon. Aber alle Barbarei dieser Entwicklung, von den Verteilungskämpfen der Sammler und Jäger über die Sklavenhaltergesellschaften bis zum finstersten Mittelalter haben nicht das vollbracht, was Verdienst der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist: die Systematisierung und Verwissenschaftlichung von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen. Statt den Gott vom Thron zu stoßen, wurde er verwissenschaftlicht. Chauvinistischer Dreck und Vorurteile war schon immer da, nicht erst seit der Kolonisation anderer Kontinente. Aber "Völkerkundler" haben daraus die "Überlegenheit der weißen Rasse" gemacht. Nicht erst unter den Nazis wurde der Rassenwahn pseudowissenschaftlich zu belegen versucht.

Der Rassismus in Deutschland wird in der Gesellschaft von oben und unten getragen. Darin finden sich weiße Frauen auf der Seite der Privilegierten wieder. Die Typen sowieso. Die Entscheidung kann nur sein, die Scheiße loszuwerden. Es geht nicht nur darum andere und die Umstände zu verändern, sondern auch uns selbst.

Fluchschriften haben Konjunktur (SWING u.a.), Motto: Alles ist rassistisch, erstrecht die Gegenwehr. Auch so eine Sorte der Selbstentwaffnung. Das, was die Menschen tatsächlich in ihren Kämpfen machen, und weil es um Veränderung geht, kann es auch nur widersprüchlich sein, wird geflissentlich übersehen. Es ist der akademische Standpunkt, den Leuten ihre, sicher zum Teil banalen und bornierten, Ansichten mittels einer Textanalyse um die Ohren zu hauen. Die Methode der Rechthaberei.

Weder "Schlagt die Nazis" noch "Nachdenken über den eigenen Rassismus" können in einer Situation wie heute wirksam Veränderung erreichen. Im Gegenteil, das jeweilige schwerpunktmäßige wird gegen das andere gestellt. Die Einen jagen überall und immer Faschos. Während die Anderen die Bevölkerung damit malträtieren, daß die Linke sowieso nur rassistisch ist. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Rassismus verkommt völlig zum Psycho.

Daraus ergeben sich verdammt ähnliche Fragen wie in der Auseinandersetzung um Patriarchat und Sexismus. Die reaktionäre Entwicklung in diesem Land schafft eine andere Ausgangsbasis für unseren Widerstand. Bisher jedoch hangelt sich die aktive Linke von einem Widerspruch zum nächsten, immer im Bemühen den einen wichtiger als den anderen anzusehen.

Für alle stellt sich aus ihrer unterschiedlichen Geschichte immer wieder eine bohrende Frage: mit wem kann ich mir vorstellen, all das zu erkämpfen, was es zu verändern gilt. Die Antwort ist bei vielen nur schematisch, anstatt das eigene Bewußtsein in der Wirklichkeit zu schärfen. Konsequenzen hat es selten, kämpferische noch weniger.

"In dem Ausmaß, in dem ein politischer Ansatz monokausal ist, können die tatsächlichen Opfer von Rassismus, Sexismus oder Klassenunterdrückung ausgeschlossen bleiben, unsichtbar gemacht oder als antagonistisch zu diesem Politikansatz gesehen werden. Dementsprechend können Vorurteile oder diskriminierende Handlungen offen, subtil oder versteckt sein; sie können sich unterschiedlich in Ideologien, Statuten oder Strategien sowie in zwischenmenschlichen Beziehungen manifestieren. Unsere Geschichte des Widerstands gegen die mehrfache Unterdrückung ist voll von starken Spannungen, unhaltbaren Ultimaten und bitteren Kompromissen zwischen den nationalistischen, feministischen und klassistischen Politikansätzen. Die Gruppen, in denen wir bei bestimmten Fragen Verbündete finden, sind die Gruppen, in denen wir bei anderen Fragen Gegner finden können. Wir müssen uns ständig entscheiden, mit wem wir uns verbünden, welche Interessen im Vordergrund stehen sollen." (Deborah King)

Momentan besteht die Gefahr, daß die Linke "in die Arme des Staates" treibt, um sich von der faschistischen Gewalt abzugrenzen. Der Ruf nach dem "starken Staat" wird laut. Bullen und Justiz hätten dafür zu sorgen, daß der Nazi-Terror eingedämmt wird. Wir selbst finden uns plötzlich mit den "antifaschistischen Bullen" Seite an Seite, wie z.B. im hessischen Erlensee, wo ein Konzert der Faschoband Störkraft stattfinden sollte. Ziemlich hilflos und voller Wut sind wir manchmal doch ganz froh, wenn die Bullen gegen die Nazis einschreiten, wozu wir selbst oft genug nicht in der Lage sind.

Rassismus ist kein Thema unter vielen. Das ist nicht nur eine moralische Kategorie. Wir denken, daß eine antirassistische Bewegung aufgebaut werden muß, die wirklich zentral ist, d.h. die verschiedenen Schwerpunkte und Ansätze gegen Rassismus, Sexismus und Faschismus vereinigt. Die Basis ist die Selbstorganisierung von unten - keine Appelle an die Regierung. Sie darf die ausländischen Menschen nicht per se zu den besseren, revolutionären Menschen erklären. Bei ihnen gibt es genauso Arschlöcher, Sexisten und Schweine wie überall anders auch. Aber sie darf sie auch nicht bevormunden und zum Objekt linksradikaler Fürsorge machen.

Dieser Aufbau wird sich - im Verhältnis zu einer revolutionären Organisierung - in den nächsten Jahren wahrscheinlich oft diametral gegenüberstehen. Es ist aber unumgänglich. Die Verbindung von beidem muß geschaffen werden.

Ich muß in diesen Tagen von der Hoffnung leben, nicht von den Nachrichten

Eine politische Demonstration und die Militanz der 80er - "Früher gings um Angriff, heute um Politik" Revolutionäre Front. - Freiheit für die revolutionären Gefangenen! Kinkelinitiative: So oder so, oder nur so? - Wir essen kein Brot, sondern Reklame. Internationalismus, Soziale Frage, Organisierung

Eine politische Demonstration in München und die Militanz der 80er Jahre

Über 20.000 Menschen waren auf der Demonstration am 4. Juli 1992 in München - eine große Demonstration, auch wenn wir heute wieder andere Größenverhältnisse gewöhnt sind.

Groß war auch das Bullenaufgebot und Stunden hat es gedauert, bis in zähen und mühseligen Versuchen gemeinsam die Demonstration zum Laufen gebracht wurde: einige Schritte vorwärts, wieder rückwärts zusammenrücken, damit keine Lücken entstehen, das ganze wieder von vorn. Die ersten 500 Meter vom Marienplatz weg vorallem, aber auch die ganze Route über, eine einzige Provokation: immer wieder gingen USK und andere Bulleneinheiten rein, wollten Keile treiben, Seitentransparente abnehmen, versuchten zu spalten, versuchten "Schwarze Blöcke" zu isolieren. Daß es die nicht gab, sondern die Demo ziemlich durchgehend bunt und schwarz war, verwirrte die Einsatzleitung dazu.

Daß wir durchkamen war ein Erfolg. Die internationalen Genossinnen und Genossen an der Spitze und der kämpferische Frauen- und Lesbenblock trugen viel dazu bei. Die Anstrengung von allen war zu spüren, alle wissen um die Verantwortung: Wir können es nicht zulassen, daß die staatliche Absicht, die Demo aufzuhalten, aufzusplitten und vielleicht auseinanderzujagen, aufgeht.

Die per Lautsprecher durchgegebene Message war: "Wir wollen eine politische Demonstration machen. Es sind die Bullen, die das verhindern". Das war korrekt, aber was ist eine "politische Demonstration"? Der Sinn der Aussage ist: Wir beabsichtigen keine gewalttätige Demonstration, die Gewalt geht von den Bullen aus. Aber ist Gewalt unpolitisch? Wäre eine von uns aus so bestimmte, militante Demo eine unpolitische gewesen?

Wir sind sicher, daß in dieser Episode mehr steckt als nur eine Floskel aus Unsicherheit. Es ist für uns auch nicht das Ding des lautsprechenden Genossen. Es ist genauso von anderen bis zum Ende der Aktionstage auf jeder Demonstration zu hören gewesen.

Für viele ist "eine Scherbendemo" in den letzten zehn Jahre zum Inbegriff einer "richtigen" Demonstration überhaupt geworden. Anfang der 80er Jahre war die massenhafte Militanz auf der Straße noch sprengend; die Politiker reagierten mit Panik und "Dialog mit der Jugend". Nicht, daß militante Demos falsch wären, manchmal vielleicht, aber vorallem sind sie kein Ersatz für selbstbestimmte militante Aktionen. Genau das aber ist passiert. Kaum wurde Anfang der 80er militante Praxis, Angriff und Organisierung als Möglichkeit erobert, sind sie schon wieder verloren gegangen.

Jetzt wird revolutionäre Gewalt im eigenen Denken, ihrer Politik und Ziele und, na klar, auch des Mythos entkleidet. Anders ist die "politische Demo" nicht zu verstehen.

Die Bewegungen der 80er Jahre waren massenhaft, subversiv und zum Teil auch militant. Sie leiteten keine tief gehende gesellschaftliche Veränderung ein. Aber sie erkämpften einen Bruch mit einer Kühlschrankgesellschaft, die sich mit dem Touch der durch die 68er-Bewegung freigesetzten Möglichkeiten schmückte. Inzwischen war sie längst wieder im "business as usual" versackt. Die Kämpfe der 80er sind mit der Niederlage der Guerilla 1977 aufgewachsen. Ob bewußt oder unbewußt - für die Vorstellung zu siegen, hier wirklich die Verhältnisse nach unserer Melodie zum Tanzen zu bringen, spielte diese Machtfrage und vorallem ihr Ausgang eine große und desillusionierende Rolle. Die Linke, die Gesellschaft, der Staat - nichts war mehr wie vorher. Die Gefühlslage der Bevölkerung war wie nach einem kalten Staatsstreich. Die SPD-Bluthunde hatten ihre Entscheidung getroffen als stände die Existenz des Staates auf dem Spiel.

Dagegen brachen sich die Bewegungen Bahn. Obwohl oder gerade trotz des Wissens, daß dieser Staat totalitär ist, mit einer ungeahnten Militanz und kreativem Elan.

Die Häuserbewegung, die Anti-NATO-Kämpfe, aber auch die Friedensbewegung, die Solibewegung mit Nikaragua und El Salvador oder der Widerstand gegen Großprojekte wie Startbahn-West, Wackersdorf und AKW's haben den Alltag der einzelnen Menschen zum Teil nachhaltig verändert und dafür gesorgt, daß in den starken Momenten, das ganze Leben aus dem Kampf bestand. Daß der gesellschaftliche Trend - anders als Ende der 60er - völlig konträr dazu lief, war kaum in unserem Bewußtsein. So läßt sich auch erklären, warum - bis auf die Anti-AKW-Bewegung, die es geschafft hat das damalige Atomprogramm erstmal zu stoppen - keine dieser Massenbewegungen durchkam.

Solange existent, organisierten sich aus dem Kampf viele Lern- und Denkprozesse und ein gemeinsames Lebensgefühl. Ohne auch diese erbitterten Kämpfe und Schlachten gäbe es heute nicht das gesellschaftliche Wissen über die staatlichen Machtverhältnisse, die Ausbeutung weltweit, die Ökologiezerstörung usw.

Militanter Straßenkampf gegen die Jubelfeier zum 25.Jahrestag der NATO in Bremen, Protest und Widerstand gegen die öffentlichen Rekruten-Vereidigungen der Bundeswehr, Aktionen gegen NATO-Manöver und militärische Infrastruktur, die Welle der sozialen Aneignung und Revolte in der Häuserbewegung, der militante und massenhafte Widerstand ganzer Regionen mit Strommastsägen und Sonntagsspaziergängen, Solidarität mit der RAF... - überall bildeten sich kleine und kleinste "Widerstandsnester", manchmal nur ein paar Leute, spontan und am nächsten Tag schon wieder zerstreut oder organisierterer Natur. Es rumorte, von kleinen Zusammenhängen mit militanter Praxis, autonomen Gruppen aus der BesetzerInnenbewegung bis zur RZ-Politik: "Jedes Herz ist eine Zeitbombe". So unterschiedlich, teilweise im Widerspruch zueinander, die politischen Bezugspunkte auch waren - von "Front" bis zu den Vorstellungen sozialrevolutionärer Autonomie im Kiez -, ungleichzeitig und immer wieder zurückgeworfen durch ideologische Knüppel zwischen den eigenen Beinen, einte diesen Aufbruch die Ablehnung der bundesdeutschen gesellschaftlichen Realität. Es war der Versuch selbstbestimmte, außerhalb der staatlichen Normen und Regeln stehende Lebensformen und Beziehungen zu entwickeln.

Die, die kämpften suchten sich unmittelbare Wege und Formen zur Umsetzung, zur Praxis. Nach dem Motto: "Alle können alles", - eigene Aktion und Selbstbefreiung - wurde der subjektive Nerv freigelegt. "Gefühl und Härte" gegen die Tristesse und den Gehorsam in konventionellen Parteien und Organisationen, gegen den Verrat der Spontis.

Daraus blüht heute Selbstgefälligkeit und Selbstgenügsamkeit - eine Lebensart, die an Luxus grenzt. Der eigene Bauch als Nabel der Welt. Die Bewegungen sind verschwunden und mit ihnen fast vollständig auch ihre Erfahrungen und Inhalte. Die nun vereinzelten Leute machen heute meist etwas völlig anderes. So bricht jede Erfahrung mit dem Anfang und dem Ende ihrer politischen Geschichte ab. Geblieben ist kaum mehr als die kämpferische Pose. Die Reste aus starken Bewegungen, übriggebliebene Haltungen ohne Inhalt. Eine langfristige Organisierung konnte auch keine der Bewegungen leisten, ohne sich komplett neu zusammenzuraufen. Ohne politische Organisierung, ständige Diskussionen und Praxis, entwickelt keine und keiner eine Identität.

Unsere eigenen Worte wie Kollektivität, Selbstbestimmung, "auf die eigene Kraft vertrauen", haben in den 80er-Bewegungen immer nur in wenigen Momenten gestimmt. Es waren Augenblicke, wo alle das Gefühl hatten, so können wir die Welt aus den Angeln heben - und jedes Problem untereinander läßt sich lösen. Doch der Alltag hatte in jeder Gruppe, in jedem besetzten Haus... ein völlig anderes Gesicht. Mühselig, manchmal bis zur Kleinkrämerei, verzettelnd im wahrsten Sinne des Wortes, sich gegenseitig mit dem Feind verwechselnd (in jeder Struktur ist auch der ganze Dreck dieser Gesellschaft enthalten, was ohne eigene Anstrengung zur Veränderung, alle zur Verzweiflung bringt).

In dieser Aushöhlung wurde spürbar, daß der ganzheitliche Lernprozeß längst nicht mehr möglich war. Auch aus dieser Erstarrung speiste sich die autonome Frauenbewegung der 80er. Es ging um den ganzheitlichen Begriff von Befreiung; nicht dieses Möchtegernrevolutionäre nach Feierabend, sondern die vollständige Umwälzung auch von sich selbst. Die Unfähigkeit in unseren Strukturen den Sexismus zu begreifen und zu bekämpfen, hat viele Frauen dazu gebracht sich aus der Bewegung zurückzuziehen. Mal ganz abgesehen davon, daß von den meisten Männern (wenn überhaupt) nur Sprüche kommen, aber kein Handeln.

Das große Bedürfnis nach Frauenorganisierung zu dieser Zeit griff der absoluten Zersetzung der emanzipatorischen Inhalte unseres Kampfes voraus: Frauen sind immer die ersten, die die Trennung und Aufsplittung zu spüren kriegen.

Um überhaupt die eigene Identität als kämpfende Frau, als revolutionäre Lesbe, als weibliche Militante zu finden, war für viele die Abgrenzung sowohl gegenüber dem Mann und der Männergesellschaft wie auch gegenüber den als revolutionär behaupteten gemischten Zusammenhängen unabdingbar. Das verkam zu einem Dogma. Wie woanders auch, war die Abgrenzung das stärkste Moment. Entscheidend war nicht mehr unsere Stärke als Frauen, entscheidend war nur noch die Abgrenzung zu Männern, und die Abgrenzung zu Frauen, die noch mit Männern was zu tun hatten. Es wird immer Unterschiede geben: zwischen Frauen, die zusammen mit Männern kämpfen und lieben, Frauen, die mit Männern kämpfen und Frauen lieben, und Frauen, die mit Frauen kämpfen und lieben - wir stellen das nicht gegeneinander.

Während jede Demo mehr zur Macker-Spielwiese wurde, ist jeder brauchbare Militanz-Begriff auf der Strecke geblieben. Auch deswegen zogen sich viele Frauen zurück. Ein Männer-Problem ist das nicht, sondern eins der politischen Vorstellungen, in der Militanz mit Steinen gleichgesetzt wurde. "Die Krise der Militanten" blieb darin unverstanden.

Diese Begriffsverwirrung, auch von politisch/unpolitisch wird komplett, wenn auf anderer Ebene, von einer anderen Praxis aus das Gleiche läuft. Von RAF und RZ kommt es auch, "früher ging es um Angriff - heute um Politik".

Haben nun diejenigen doch Recht, die schon immer den Widerspruch zwischen militanter oder bewaffneter Aktion und sozialistischer oder revolutionärer Politik behaupteten? Wir sehen das anders.

"Früher ging es um Angriff - heute um Politik"

"Heute geht es um ...", je nach dem: "das Soziale", "das Konkrete", "die Breite". Die gefangenen GenossInnen hatten in ihrem Hungerstreikkampf 1989 die Neubestimmung revolutionärer Politik auf die Tagesordnung gesetzt. Frischer Wind tat not: gegen die Verflachung des eigenen Politikverständnisses, der Reduzierung von Praxis auf die militante Aktion, daß es mehr Menschen außer der Scene in diesem Land gibt, denen die Verhältnisse stinken und daß unsere politischen Denk- und Handlungsmuster längst nicht mehr ausreichen uns selbst und uns mit anderen zusammen zu organisieren. Diesen Gedanken: gegen das stereotype Weiterzeichnen einer Linie bis zur Karikatur einen politischen, wie auch begrifflichen Schnitt zu setzen, damit konnten wir viel anfangen.

Aber es wurde wie fast immer: eine Erkenntnis wird, bevor wir sie zusammen auf ihre Tauglichkeit hin überprüft haben, schon eine Formel. Ein Schlag-Wort mehr, das seines Inhalts beraubt jede weitere Diskussion blockiert und eine andere als die beabsichtigte Wirkung erzielt. Schlimmer noch: es wird zum Begründungsmuster um Fragen, Widersprüche oder mögliche andere Konsequenzen zu beerdigen. "Es geht jetzt um einen politischen Prozeß" - so als wenn es früher um was ganz anderes gegangen wäre.

Tausende, wenn nicht sogar zehntausende von militanten und bewaffneten Aktionen, Demonstrationen, Sabotageakte, Angriffe mit welchen Mitteln auch immer, haben die Bewegung der 80er Jahre geprägt. Im Bewußtsein vieler, die selbst aktiv darin gekämpft haben, gerinnt die Erfahrung dieser Praxis zu einem unpolitischen "drauflos". Das sagt dieser Satz in der Konsequenz. Wir sagen, er tötet diese Erfahrung, weil ihm ein Politik- und ein Praxisbegriff zugrunde liegt, der keine Kriterien hat. "Das Primat der Praxis" ist nicht die Ideologie der Handwerkelei, "Die Politik des Angriffs" nicht die Propaganda eines Aktionismus. Sie sind dazu verkommen. Das ist unsere Kritik und Selbstkritik; darin sehen wir einen Grund für die Niederlage der revolutionären Linken. "Heute geht es um Politik" ist Ausdruck eines völligen Unverständnisses über die eigene Geschichte und die eigene Praxis in ihr.

In unserer Vorstellung vom Kampf um Befreiung war "zum Angriff kommen" untrennbar verbunden mit dem Kampf um die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Führern und Geführten, von Politik und Privat, Revolution und Emanzipation. "Das Soziale ist die Politik". Die Praxis der revolutionären Bewegung ist ihre Politik. Alles andere ist Ideologie.

An dieser Politik haben wir jede Menge Kritik und Selbstkritik, z.B. die "Politikunfähigkeit" der revolutionären Linken. Wir wollten da zu fassen kriegen: selbst unfähig geworden zu sein, soziale und politische Bezüge zur gesellschaftlichen Entwicklung herzustellen, um sich in ihr zu bewegen und sie voranzubringen. Kampfformen hatten sich verselbstständigt, waren kaum noch oder immer schwerer diskutier- und bestimmbar im Verhältnis zu den allgemeinen Zielen und den konkreten Zwecken des Kampfes. Aber "Angriff" und "Militanz" sind keine Formen, keine Hüllen; sie sind Teil der Identität einer revolutionären Bewegung - und so herum sind sie ihre Politik, ihr Inhalt. "Die Politik des Angriffs" - war ein Begriff der 80er Jahre. "Der Sinn eines Satzes ist sein Zweck" hat die RAF zu vor gesagt - und damit die gründlichste Ideologiekritik gemacht. Die Schlußfolgerung, heute ginge es um Politik meint, daß es heute nicht mehr um Angriff geht. Aber: welche Politik soll die revolutionäre Linke denn sonst haben, wenn nicht die HERRschenden Zustände anzugreifen?

Wie kommt es, daß fast alle, nicht nur die Medien, von April an von dem "Ende des bewaffneten Kampfes" sprachen, obwohl davon gar nicht die Rede war? Aus der Entwicklung der letzten Jahre konnte es nur so verstanden werden. Nicht erst in den Texten dieses Jahres wurde deutlich, daß die bewaffneten Angriffe der Guerilla ohne konzeptionelle Vorstellung waren. Die Aktionen erklärten sich vorallem über das Angriffsziel. Die Kommandoaktion gegen Herrhausen war richtig, weil er der Chef der Deutschen Bank war... usw. Was sie aber bewirken sollte, was ihr Zweck war, welche Bedeutung ihr im Prozeß der Entwicklung einer revolutionären Bewegung zukommen sollte....das wurde nicht deutlich. Daraus kommt die unselige Gleichung, die seit April unwidersprochen da ist: Guerilla = Hinrichtungsaktionen. So wird aus der Einstellung einer spezifischen Aktionsform das Ende der RAF - und das, obwohl sie es gar nicht erklärt hat.

Wir verstehen nicht, warum die GenossInnen ihre Diskussion außerhalb des Kontextes anderer Erfahrungen und Überlegungen aus dem bewaffneten Kampf entwickeln. In den 30 Seiten vom August wird nicht erkennbar, daß es weitere Versuche bewaffneter Politik außerhalb der RAF gegeben hat. Uns interessiert nicht der altautonome Vorwurf der Ignoranz und Überheblichkeit. Es zeigt nur, daß die Rote Armee Fraktion sich selbst nicht mehr als einen Ansatz innerhalb einer strategischen Konzeption, der des Guerillakampfes in der BRD und Westeuropas diskutiert. Zumindest für uns steht nicht die RZ oder die RAF zur Diskussion, sondern die Überlegungen, Erfahrungen und Konsequenzen aus über 20 Jahren politisch-militärischer Praxis.

In den Texten der verschiedenen Revolutionären Zellen finden wir Andeutungen oder auch Hinweise auf andere Ansätze; seien es Dagegen-Bestimmungen, sei es, daß sie sich ins Verhältnis zur Praxis der RAF setzen. Ein Beispiel: Eine RZ, die sich auflöste, stellt selbstkritisch das Fehlen einer notwendigen Vorstellung vom Aufbau einer politischen Struktur fest und diskutiert das am Beispiel der Front-Konzeption der RAF.

Die Genossinnen und Genossen aus der RAF kennzeichnen die letzten Jahre als eine aktionistische Phase, die sie jetzt abschließen. Alle Teile der revolutionären Linken waren davon erfaßt. Aktionistisch, weil hinter den Aktionen und Vorstößen sowohl die unmittelbaren wie die langfristigen Ziele des Kampfes verschwammen. Kaum mehr als Zustimmen oder Ablehnen der Angriffsziele war möglich. Die Politik selbst blieb unreflektiert. Das wirkt sich für jede Diskussion verheerend aus. Passivität und Konsumverhalten sind die Folgen. Nicht mal das Feuer eines erhitzten Streits über Sinn und Unsinn von Aktionen konnte da aufkommen. Als Kriterium für Aktionen nannte die RAF, daß die Menschen ihnen emotional folgen können müssen. Das ist nicht möglich, wenn die eigene Gewalt keinen realen gesellschaftlichen Sinn vermittelt, sondern nur den auf den Anlaß, das Angriffsobjekt bezogenen. Das muß sich auf Dauer für die Menschen als Teil des herrschenden Chaos darstellen und in einer allgemeinen irrationalen Gefühlslage untergehen. Die "menschliche Dimension", auf die eine Widerstandsaktion die imperialistische Totalität bringt, daß wir nicht nur auf den Knien zu rutschen brauchen und alles schlucken müssen, verpufft.

Für uns entwickelte sich die historische Bedeutung der RAF für revolutionäre Politik in der Metropole daraus, daß hier erstmals eine Gruppe auftrat, die dem bewaffneten Kampf nicht nur eine taktische Bedeutung beimaß. Er war strategisch bestimmt aus der Umzingelung und Verstaatlichung der sozialen und politischen Widersprüche in der Bundesrepublik und eines Weltsystems, in dem die Metropolen die Zentren von Macht und Reichtum sind. Die gesellschaftlichen Widersprüche sollten freigesetzt und eine Autonomie der unterdrückten Menschen in der Metropole erreichen. Alle mußten sich zu Guerillapolitik ins Verhältnis setzen.Die RAF zog in die Metropole einen nichtintegrierbaren Pol, der gesellschaftliche Alternativen jenseits kapitalistischer Demokratie wieder denkbar machte. Hier geht der Riß quer durch alle Politik: das ist mit der RAF verbunden, zugleich aber auch wieder verloren gegangen.

Auf das "Mai-Papier", wie früher die Front-Konzeption der RAF genannt wurde, folgt zehn Jahre später das "August-Papier". Die RAF bezeichnete es in einem Brief an KONKRET als "unsere Grundlage, mit der wir in die dringend notwendige Diskussion um Neubestimmung linker Politik gehen wollen". Können wir aber auf dieser Grundlage diskutieren? Über Strategie und Taktik des bewaffneten Kampfes der RAF erfahren wir fast nichts. Die Genossinnen und Genossen, die heute in der RAF sind, sagen, daß sie zu den strategischen Bestimmungen der Front nichts sagen können, weil sie nicht dabei waren, als sie entwickelt wurden.

Das ist doch nichts anderes, als die Entwicklung des Kampfes immer dort beginnen und enden zu lassen, wo jede/jeder selber angefangen hat bzw. gerade steht. Aber das engt die Sicht auf die politische Situation genauso ein, wie die Konsequenz aus erkannten Schwächen und Fehlern oft genug gerade die bloße Negation der früheren Vorgehensweise ist. Es bleibt nur das Gefühl, für die GenossInnen war die eigene Politik "abstrakt", weswegen es jetzt um "das Konkrete" geht.

Trotzdem ist die vielleicht für alle unerwartete Situation eingetreten, daß scheinbar kaum ein Mensch politische Widersprüche zum Entschluß der RAF hat. Nachvollziehbar ist er auf alle Fälle. Und sei es nur wegen der Hoffnung auf eine mögliche Lösung für die politischen Gefangenen. Aber warum wurde er gleich in den Rang einer objektiven Notwendigkeit gesetzt? Aus der subjektiven Entwicklung, aus der inneren Notwendigkeit, Raum und Zeit für Reflexion und Neubestimmung zu haben, ist er doch ausreichend legitimiert.

Revolutionäre Front

In der Beschreibung der inneren Struktur der "Front" haben wir vieles wiedergefunden, was wir aus eigenem Erleben oder aus erzählten Erfahrungen kennen. Wir wollen nichts davon relativieren. Wir kennen genügend Genossinnen und Genossen, an denen wir und die an uns gelitten haben; viele können auch heute noch nicht davon reden. Informelle Hierarchien, Rigidität und harte Orientierung auf die Aktion, auch die Hierarchisierung der Mittel waren Merkmale der Struktur. Das hatte Auswirkungen auf den ganzen politischen Prozeß. Graue Eminenzen (mit und ohne Schwänzen), sich bedeckt haltend, beobachtend, versteckt hinter geborgter Autorität (seien es die Gefangenen oder die RAF), Cliquenwirtschaft, Insidergetue, falsche Konspirativität statt offener Aussprache... das alles und noch mehr. Also, wie gesagt, wir wollen nichts beschönigen, aber eine Frage haben wir doch: warum in aller Welt haben die Leute eigentlich angefangen zu kämpfen? War die Front noch was anderes als eine Tortur? Warum spricht eigentlich fast eine ganze Generation von Militanten, dann, wenn die Rede auf diese Phase kommt, von fast nichts anderem als dem inneren Leiden?

Es ist möglich die Kampffront von Guerilla und Widerstandsgruppen als mutige, aber engstirnige und in militarisierter Aktion erstarrte Phase zu sehen. Die Selbstüberschätzung und starken Sprüche, die sie begleiteten und die sie selbst produzierte, sprechen dafür. Das leugnet aber die innergesellschaftlichen wie internationalen Widerspruchslinien, aus denen die Bewegung kam und die sie in ihrer Praxis ins Visier nahm.

Natürlich: von heute her betrachtet war vieles naiv und grob vereinfacht. Der analytische Begriff war stärker geprägt von den Stamokap-Theorien über die Einzigartigkeit und Übermacht des militärisch-industriellen Komplexes, als von der Tatsache, daß imperialistische Macht, ihre Durchsetzung und Stärke mehr bedeutet als High-Tech-Produktion, SDI und Blitzkrieg. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre komplexen Widerspruchslinien haben nur insoweit interessiert, als daß es richtig und notwendig ist sich dagegen aufzulehnen und mit ihnen zu brechen. Das beinhaltete aber nicht automatisch einen eigenen emanzipatorischen Gegenentwurf.

Der Beitrag für die Entwicklung revolutionären Kampfs war die richtige Behauptung der Notwendigkeit einer internationalistischen Strategie und: das Ziel, die Wirkung und Politik der Guerilla in die Gesellschaft politisch und sozial zu organisieren und auszuweiten. Dazu gehört auch die Perspektive eines kontinentalen Zusammenschlusses, zumindest einer Aktionsfront revolutionärer Gruppen in Westeuropa. Es war die radikale Kritik an einer Friedensbewegung, der es zu weiten Teilen egal war, ob die Pershing`s in Warschau oder Tripolis einschlagen, solange sie nicht im eigenen Vorgarten stehen. Es war die praktische Kritik, daß Hunderttausende auf den Straßen nichts wirklich durchsetzen können, solange sie nur an die Macht appellieren und mit gleicher Vehemenz diejenigen verurteilen, die mit Steinen die Sache selbst in die Hand nehmen. Es war der Bruch mit den nach '77 neu entdeckten alternativen Ecken und Nischen des Systems.

Es war aber auch die Abkehr von der spontaneistischen Scenestruktur, des Popanz der "hier-heute-und-jetzt"-Haltung, die im Fehlen einer Strategie nicht ein Manko sah, sondern als Nonplusultra der eigenen Politik verstand. Es war das, was den Kampf der Guerilla und der revolutionären Gefangenen immer ausgemacht hat: so beschissen die eigene Lage auch ist, nicht aufzuhören zu kämpfen, und: dem Staat eine reale Grenze zu setzen. Das war der Stoff. Alles andere ist objektivistischer Quark. Das Konzept war weder falsch in seinem Ansatz, noch Anfang der 80er in den Bestimmungen bereits "historisch überholt" angesichts der weltweit sich verändernden Kräftekonstellation. Da hilft auch kein Messerschleifen. Angesichts der internationalen Zuspitzung (Rollback der Sowjetunion, der "nationalbefreiten" Staaten und Revolutionen im Trikont durch Hochrüstung, Wirtschaftsblockaden und Anti-Guerillakriegsführung); angesichts aber auch der minoritären Position selbst innerhalb der radikalen Linken im eigenen Land, war es für die Phase der eigenen Konstituierung die richtige und notwendige Zielsetzung mit allen verfügbaren Kräften Front zu machen gegen die Kriegstreiberei des NATO-Imperialismus, zurückzuschlagen gegen die europäische Großmachts-Politik. Der Charakter der Konfrontation mußte überhaupt erst scharf gemacht, sich selbst ein erster Boden und Orientierungspunkt erkämpft werden.

Die Zersetzung dieser Kampfperspektive hat trotz massiver staatlicher Verfolgung (Festnahmen mit hohen Knaststrafen, Veranstaltungsverbote, 129a-Verfahren...) vorallem innere Ursachen. Ein entscheidener Grund ist, daß die militanten Prozesse sich selbst ihrer ursprünglich sozialen Dimension des revoltierenden Aufbruchs beraubt haben. Die anfänglich taktischen Bestimmungen wurden zu den grundsätzlichen Koordinaten der Politik. Ohne Reflexion, ohne bestimmbares Ende - bis die Subjekte nicht mehr konnten oder wollten. Der politische Begriff reduzierte sich auf die Analyse der globalen Entwicklung, aus der Linien gegen die Strategie von Staat und Kapital entworfen wurden, worin aber "unsere Strategie" ihren schöpferischen Charakter verlor: ein eigener emanzipatorischer Gegenentwurf war nicht mehr denkbar und so auch nicht organisierbar. Die Taktik, die eroberte Praxis, d.h. die Politik wurde zusehends der "äusseren" Form gleichgesetzt, die Mittel des Kampfes wurden hierarchisiert.

Dieser Prozeß wurde verlängert bis zu einem Zeitpunkt, wo aus seiner politischen Sprengkraft nur noch die Ideologie der Behauptung wurde. Die Politik der Front hatte keine voranbringende Initiative mehr, weder in der militanten Aktion noch auf der Straße. Sie existierte nur noch in ihrer eigenen Feststellung. Ihre Praxis war die Beschwörung ihrer Notwendigkeit. Der überzogenen Rethorik der 80er folgt der Katzenjammer. Zwischen Apokalypse, bevorstehendem Weltkrieg oder unmittelbar bevorstehender Weltrevolution war alles maßlos. "Die westeuropäische Front erschüttert das Zentrum" oder die Einschätzung der grundsätzlichen globalen Instabilität: es brauchen nur ein, zwei Länder wegkippen und es bricht alles zusammen... Die Zuspitzungen erscheinen heute schwer nachvollziehbar, aber es waren die Einschätzungen und Parolen. Daraus erklärt sich vielmehr, daß es im eigentlichen Sinne keine eigene Strategie gab: "Strategie gegen ihre Strategie" hieß es im Mai-Papier '82.

Viele haben daran gelitten: mit allem Mut, mit allem ernsthaften Einsatz, mit einer bewundernswerten Ausdauer und Entschlossenheit loszulegen, anzugreifen, Strukturen der Kommunikation aufzubauen, einen verdeckten Handlungsraum zu organisieren, aber keinen eigenen Faden zu haben. Die Orientierungen lieferte der Imperialismus, er setzte den Rahmen der Politik - die politischen Linien setzte die Guerilla.

Das hat auch was mit Hierarchie zu tun. Die Überlegungen der RAF zur Hierarchie im Kapitalismus kennzeichnen den Widerspruch. Aber sie sagen nichts aus über den eigenen Umgang damit. Zum Beispiel war die Zeitung ZUSAMMEN KÄMPFEN nie ein Forum der Diskussion, der politischen Auseinandersetzung. Es war ein Verlautbarungsorgan. Politisch wichtige Entscheidungen, wie der antiimperialistische/antikapitalistische Kongreß 1986 oder das Ende der "Offensive '86" usw. sind nie transparent geworden. Warum wurde sich so und nicht anders entschieden? Bis zur Entscheidung vom April dieses Jahres hat die RAF nie die eigene Entscheidung zur Diskussion gestellt. Das ist auch ein Problem der Hierarchie, aber nicht zwangsläufig eines der Avantgarde. Es gab in der Front keine "demokratische Struktur", ein "offenes politisches Konzept" war es auch nie. Das werfen wir der RAF nicht vor - der Widerspruch ist der, daß sie es immer als solches behauptet hat. Ganz offensichtlich gab es nicht das Bewußtsein der Notwendigkeit für den eigenen Prozeß. Aber das muß Gründe haben, die nicht allein in der objektiven Situation der 80er Jahre liegen oder in der Sicht davon. Es hat auch nichts mit den Schwächen und Fehlern der Genossinnen und Genossen zu tun.

Aus diesen 30 Seiten wird nachvollziehbar, in welcher allgemeinen und in welcher konkreten Situation der RAF sie in die Illegalität gegangen sind. Der Ablauf und die Überlegungen vieler Diskussionen in den politischen Zusammenhängen dieser Jahre werden erkennbar.

Schmerzlich ist, die Genossinnen und Genossen nennen die Gründe, bleiben aber an den Erscheinungen hängen. Als wenn sie nicht verstehen, was sie gerade gesagt haben: Zu den strategischen Überlegungen der Front können wir nichts sagen... Das hat den Prozeß für alle bestimmt - das wirkt bis heute nach.

Daraus mußte zwangsläufig auch entstehen, was jetzt kritisch festgestellt wird: Die Erwartungshaltung an die RAF, das Abwarten auf ihre Vorgaben, die Unselbständigkeit. Ihre Briefe und Kommuniques wurden meist ausgedeutet wie der Katechismus in der Sonntagsschule. Sicher, der RAF ist eine Verantwortung zugeschoben worden. Allerdings im gleichen Maß, wie sie es selbst beansprucht und durchgesetzt hat. Heute gibt die RAF diese Verantwortung ab. Ein Schritt nach vorne ist das nicht. Eine Alternative gibt es dazu allerdings auch nicht. In der sturen Behauptung einer "Linie" unterscheidet sich die Politik der Genossinnen und Genossen nicht vom Rest der Frontdiskussion. Es gab keinen Unterschied bis auf einen: den Kampf auf Leben und Tod führen zu wollen. Aber das ist der wichtigste. Ohne wenn und aber. Keine revolutionäre Bewegung wird ohne diese Radikalität der subjektiven Entscheidung auskommen.

Im Zusammenhang der Front ist keine Selbständigkeit entstanden, nicht wegen einzelner GenossInnen, sondern weil sie in ihr politisch aufgegeben wurde. Mit den Jahren mußte sie verkümmern. Das macht das Gefühl von Leiden und Befreiung aus, ("Der Druck ist weg", "Endlich kann ich machen, was ich schon die ganze Zeit wollte"), von dem diejenigen noch heute hauptsächlich sprechen, die mal was damit zu tun hatten. Was sie sich vorgenommen hatten, was sie erreichen wollten, welche Einschätzung sie hatten und warum sie welche Schlußfolgerungen gezogen haben...? Davon können die meisten bis heute nicht reden.

Wir behaupten nicht, daß dies alles schon vor zehn Jahren absehbar war, oder wir es hätten wissen können. Wir wollen den Subjektivismus, "wo ein" (in dem Fall: anderer) "Wille ist, ist auch ein Weg" nicht neu beleben. Allerdings war diese Entwicklung in und mit der Front alles andere als zwangsläufig. Ihrem viel zu schematischen Begriff der objektiven Situation und der subjektiven Notwendigkeit stand genauso gegenüber ein präziser Begriff historischer und politischer Verantwortung, wie er außerhalb dieses Prozesses kaum noch zu finden war. Die Revolutionäre Front lag nicht nur auf der Linie der RAF. Sie sollte eine organisatorische und politische Struktur für die Dynamik sich entwickelnder Gegenmacht sein.

Das zu denken war genauso ungeheuerlich wie den bewaffneten Kampf selbst als Strategie zu denken. Die RAF lag damit immer völlig entgegengesetzt zu dem Trend der Metropolenlinken. Mehrheitlich folgte auf den Aufbruch Anfang der 80er nicht der Sprung zu einem organisierten Klassenkampf. Anziehend war die Idee der Front nur für diejenigen, die als Konsequenz ihrer Erfahrungen in den vorhergegangenen Kämpfen diese Notwendigkeit sahen. Dafür eröffnete die Front eine Perspektive.

Freiheit für die revolutionären Gefangenen !

Nirgendwann vorher hatten wir sowas erlebt. Ermüdet nach der SamstagsDemonstration, aber im Nu hellwach: Die Solidaritätsveranstaltung mit den revolutionären Gefangenen. 500 Leute, viele GenossInnen aus zig Kämpfen und Streits und sehr viele, denen wir dort zum ersten Mal begegnet sind. Die Stimmung in der Kirche vibrierte. Die Nerven waren gespannt. Und es wurde was. Mit jeder Genossin aus der Türkei, Uruguay, El Salvador und der BRD, die vor's Mikrophon trat, mit jedem Genossen von den Philippinen, aus Puerto Rico und den USA, der berichtete wurde die Manifestation klarer und einmütiger: Freiheit für alle revolutionären Gefangenen weltweit! Alle wußten wovon sie sprachen. Sie hatten selbst im Knast gesessen, Jahre der Folter überstanden, oder waren mit dem Kampf der Gefangenen auf das Engste verbunden. Und wieviele im Saal waren nicht selbst in den vergangenen 20 Jahren zu irgendeinem Zeitpunkt im Knast? Nicht zu zählen. Minutenlange Begrüßung von Günter Sonnenberg. Er war wenige Wochen zuvor endlich nach 15 Jahren rausgekommen. Sprechchöre der Solidarität und des gemeinsamen Kampfes, Parolen internationalistischer Verbundenheit. Wann war das zuletzt? War es überhaupt schon mal so? Wir kannten es von hier nicht. Schon allein diese Bekundung und Stimmung miterlebt zu haben, rechtfertigte alle Anstrengungen. Nach 20 Jahren schien endlich in den Herzen angekommen zu sein, was Verstand, Notwendigkeit, auch Hochachtung schon immer sagten: Der Kampf der revolutionären Gefangenen ist unser Kampf. Das wurde in München an allen Tagen bei allen Gelegenheiten selbstverständlich.

Aufblitzender Humor dagegen der Vorwurf, wir hätten bewußt eine Emotionalisierung bewirkt, um von kritischen Fragen abzulenken. Na ja, einige GenossInnen kommen ohne Verschwörungstheorien nicht aus.

Selbstverständlich war die Solidarität in der BRD nie. Die Gefangenen aus der Guerilla, später auch aus dem Widerstand, hatten sich zu einem Faktor durchgekämpft, an dem keine linke Gruppe vorbeikam. Aber nur in den kollektiven Hungerstreiks gelang es eine breitere Aktionsfront herzustellen. Der revolutionäre Kampf in der BRD wurde vom Widerstand der Gefangenen trotzdem geprägt. Nicht nur, weil es oft der zugespitzteste Kampf überhaupt war. Über Jahre stellten die Gefangenen eine Konfrontation her, die kein Wenn und Aber zuließ. Auch in der Geschichte politischer Gefangener, nicht nur in Deutschland, war ihre Position radikal: Aus dem Knast heraus zu kämpfen, strategisch und kompromißlos, kein Abwarten, von wegen "der richtige Kampf findet draußen statt". Damit setzten sie auch Orientierungen für Gruppen draußen. Wo hat es das schon mal gegeben, daß eine Gruppe politischer Gefangener mit ihrem Takt auch den Takt der Entwicklung draußen bestimmen konnte? Der Streit zwischen den autonomen und antiimperialistischen Fraktionen darüber, was revolutionärer sei, die Forderung nach Zusammenlegung oder Normalvollzug, war davon meilenweit entfernt.

Aber ein revolutionärer Prozeß läßt sich nicht ewig ziehen; schon gar nicht, wenn der Stoffwechsel zwischen Gefangenen, Bewegung und Gesellschaft auf wenige Kanäle reduziert ist. Der Hungerstreik 1984/85, mit seinen vielfältigen und militanten Aktionen, eröffnete eine Perspektive des gemeinsamen Kampfes. Aber das hielt keine zwei Jahre. Der politische Vorstoß in die Gesellschaft, den die Gefangenen ab 1988 und dann im Hungerstreik 1989 unternahmen, war Reaktion auf die nicht gelungene Durchsetzung der Zusammenlegung, aber auch auf das wachsende breitere Interesse an ihrer Situation.

Das hat aber auch diesmal nicht gereicht die Forderung nach Zusammenlegung durchzukämpfen, um damit die Perspektive ihrer Freiheit zu eröffnen. Seit 1989 hat sich diese Ausgangsbedingung nicht substanziell verbessert. Im Gegenteil. Die anschließend versuchten Kampagnen für die Durchsetzung der Zusammenlegung waren gut gemeint, aber wirkungslos. Sie griffen ins Leere.

In die Anti-WWG-Mobilisierung sind wir mit dem Vorsatz gegangen, den gemeinsamen Kampf mit den politischen Gefangenen auch dort zu einem zentralen Strang zu entwickeln. Wir wollten eine internationale Diskussion, die sich die Freiheit der revolutionären Gefangenen weltweit zum Ziel setzt. Für uns hat die Frage der Menschenrechte und der Gefangenen in der "neuen Weltordnung" zentrale Bedeutung. Dazu gehört ihre Freiheit genauso wie eine neue Kampfphase gegen Folter und Ausbeutung, für das Menschenrecht auf Nahrung, Arbeit, Wohnung und ein soziales, kulturelles Leben in Würde und Selbstbestimmung. In dieser Verknüpfung, die ja nicht willkürlich ist, sehen wir gegenwärtig die einzige Chance dem Kampf um die Freiheit unserer GenossInnen in den deutschen Knästen eine neue Substanz zu geben. Auch, um ihn wieder aus der nationalen Enge zu holen.

Wir gingen davon aus, daß das ein längerer Weg ist, keine Sache nur eines Anlaufs. Mit den Genossinnen und Genossen aus den anderen Ländern hat sich eine starke Übereinstimmung in dieser Frage hergestellt. Das hatten wir so nicht erwartet.

Kinkelinitiative - So oder so, oder nur so?

Seit Januar 1992 überschlugen sich die Ereignisse. Der Justizminister redete von Versöhnung. Die RAF erklärte eine Feuerpause. Claudia Wannersdorfer, Thomas Thoene und auch Günter Sonnenberg sind seit Frühjahr raus, das Gefangenenkollektiv aus Lübeck war zur besten Sendezeit im Fernsehen; Irmgard Möller wurde als erste Gefangene aus der RAF nach 17 Jahren vom SPIEGEL interviewt; KONKRET veröffentlichte ein mehrstündiges Gespräch mit den celler Gefangenen.

Es kam Bewegung in die festgefahrene Situation. Uns freute jeder Schritt, der zur Freiheit unserer gefangenen Schwestern und Brüder führt - es war Zeit, lange schon!

Die Ausgangsbedingungen dagegen waren denkbar schlecht. Kinkels Vorstoß verlangte öffentliches Auftreten und Handeln; um damit und dagegen zu arbeiten mußte ein öffentlicher Raum erobert werden. Aber dafür gab es fast keine Voraussetzungen. Für die Reste "der Linken", für die wenigen radikaldemokratischen Gruppen sind die RAF und die Gefangenen nicht anders wie für die Regierung und die Staatsparteien eine "Altlast" der 70er Jahre. Die Reibungen sind gelaufen, die Empörung verraucht - Position ist längst bezogen worden. Wofür sollten sie sich einsetzen? Der Ex-BND-Chef machte glaubwürdig, daß er sich an die Abwicklung dieser "Altlast" macht. Solange die "Abwicklung" keine "unverhältnismäßigen Härten" hat...

Aber dazu mußte sie erstmal anlaufen. Die radikale und revolutionäre Linke dagegen, auch wegen ihrer aktuellen Desorientierung, kann gegenwärtig politisch nur initiativ in der großen Anstrengung einer Kampagne werden. Jedesmal neu muß die gesellschaftliche Isolierung durchbrochen werden. Unterschriften unter einen Aufruf, oder Grußworte diverser Parteien und Gruppen auf einer Demo können zu anderen Zeiten gesellschaftliche Relevanz bedeuten. Heute repräsentieren sie nicht viel mehr als sich selbst und guten Willen. Für den gibt es aber bei der Regierung nichts.

Die Regierung hatte nie mehr beabsichtigt als die Anwendung des Strafvollzugsgesetzes (alles andere ist hineininterpretiert worden). Aber allein das ist in der BRD eine politische Entscheidung und braucht die Abstimmung der Ministerrunde im Kanzleramt. Schon die normale Anwendung der Gesetze ist ein Staatsakt - wenn es um GegnerInnen dieser Ordnung geht. Ohne diese Rückendeckung sind harmlose Reden von "Versöhnung" und scheinheiliges Bedauern "einzelner Überreaktionen" quasi Hochverrat. Aber was hat das mit einer "politischen Lösung" zu tun?

Der Justizapparat und die politischen Instanzen, die ihn befehligen, haben keinen Zweifel gelassen, daß es darüber keine Diskussion gibt. Nach über 20 Jahren Ausnahmezustand in Sonderhaftbedingungen und Staatsschutztribunalen sollte ein individualisiertes Verfahren durchgesetzt werden. Verstaubt in den Ablagen der Bürokratie war das der Rückgriff auf das Herzstück bürgerlicher Demokratie: die Individualisierung gesellschaftlicher Konflikte.

"Im Einzelfall zu prüfen" ist Gesinnungsprüfung als Vorbedingung mit der Absicht, an jeder und jedem einzelnen Gefangenen einen "Sieg" zu demonstrieren. Damit das funktioniert, wurden gleichzeitig die Verfahren gegen die "Unverbesserlichen" vorangetrieben. Die Regierung pokerte und ihre in die Medien vorgeschickten Interpreten der RAF-Erklärung und der ersten Äußerungen der Gefangenen zeigten mit dem Daumen nach unten: "Das reicht nicht!". Von der Gewaltabsage bis zum Bedauern über die "Opfer des Terrorismus" sollte den Gefangenen die scheinbar entscheidenden Sätze abgerungen werden. Noch immer hat das für diesen Staat nach jahrzehntelanger Schikane, Isolationsfolter und Todesschußpolitik einen hohen politischen Wert.

Es ist keine Angelegenheit der Gefangenen und der Guerilla allein. Uns kann es nicht egal sein. Es geht nicht um zwei, drei Sätze zum Gewaltverzicht, den Staatschutzbehörden mit kalter Wut vor die Füße geschmissen, gestern gesagt, heute schon vergessen. Das ist keine Frage von Taktik, - den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu überlisten.

Es ist klar: Staat und Regierung wollen uns allen den Boden unter den Füßen wegziehen. Die HERRschenden wissen um die Fragen und die Krise militanter Politik. Die Linie der justiziellen Individualisierung und Verhackstückung von 20 Jahren Kampf in den Personen unserer gefangenen Genossinnen und Genossen soll jeden Funken der Neubegründung und politischen Kontinuität eines emanzipatorischen Prozesses in diesem Land zerstören. Aber, sollen es deswegen die Gefangenen für uns "ausbaden"?

Für viele, vielzuviele, war es eine "Zäsur" im staatlichen Handeln. Der politische Angriff auf die Voraussetzungen des eigenen Kampfes ging in der Euphorie und Hoffnung auf die baldige Entlassung der Gefangenen unter.

Im Januar 1992 kam eine Plakatserie raus: "Freiheit für alle politischen Gefangenen - So oder so". So oder so war bildlich: die durch Kampagnen erreichte Entlassung einzelner Gefangener, die gewaltsame Befreiung, die durchgesetzte Amnestie für alle politischen Gefangenen, die Befreiung im Austausch gegen Geiseln, der Ausbruch... So oder so, die Gefangenen müssen raus! Plakate stellen nicht die Machtfrage! Mehr als auszudrücken, daß es darum geht, die Frage der Gefangenen nicht dem erpresserischen Kalkül der Regierung zu überlassen, da zu sein, den Wind zu drehen, machten sie auch nicht.

Aber für den BRD-Staat war der Zug schon ganz woanders: weder so noch so - sondern Kinkel.

Wie hoch darf der Preis dafür sein? Bestand eine Chance auf eine politische Lösung, die alle Gefangenen umfaßt? Geht das überhaupt, wenn das Ganze nur zwischen Staat, Guerilla und Gefangenen ausgemacht wird? Das war uns die wichtigste Frage. Wir haben sie erstmal mit Nein beantwortet. Auch daraus haben wir unsere Aktivitäten in der Anti-WWG-Mobilisierung als ein Eingreifen bestimmt. Der Spielraum von Gefangenen und Guerilla war denkbar klein.

Die "Gefangeneninitiative" der Regierung ist schon Ergebnis des jahrelangen Kampfes der Gefangenen, ihrer Unbeugsamkeit und Ausdauer. Die objektiv nur so zu verstehende Absichtserklärung sowohl der Guerilla wie der Gefangenen, die einzige Möglichkeit für Fortschritte in der "Gefangenenfrage" innerhalb des vom Staat abgesteckten Rahmens der streng rechtstaatlichen Handhabung, also der Einzelfallprüfung zu sehen, konnte höchstens bewirken, daß die Modalitäten zur Diskussion standen. Der Staat sattelte drauf, die Vorbedingungen wurden weiter gefaßt. Es sah ganz so aus als würde selbst die Mauerritze, durch die die Sonne der Freiheit auf die Gesichter einiger unserer gefangenen Genossinnen und Genossen blinzelt, wieder mit dem bonner Zement zugeschmiert.

Die Kopplung der "Gefangenenfrage" mit der Zukunft revolutionärer Politik, wie sie die RAF selbst vorgenommen hat und von den Gefangenen gutgeheißen wurde, hatte in dieser Situation die Folge, daß sich der Druck auf die gefangenen GenossInnen verstärkte. Die in der 10.4.-Erklärung noch enthaltene Drohung, die Angriffe wieder aufzunehmen taugte nicht mal mehr als Verhandlungsmasse - als eine moralische Haltung haben wir es verstanden.

Seit Anfang des Jahres fühlten wir den Druck dieser politischen Zwickmühle. In die haben sich nicht nur die RAF und die Gefangenen, sondern die revolutionäre Linke insgesamt, zumindest aber alle, die sich für die Zusammenlegung und Freiheit eingesetzt hatten, selbst hineinmanövriert. Seit dem Hungerstreik 1989 ist es dem Staat gelungen die Diskussion um die Gefangenen politisch zu bestimmen. Stück für Stück wurde die staatliche Lesart der Ausgangspunkt der politischen Überlegungen in der öffentlichen Auseinandersetzung. Die von der Koordinierungsgruppe gegen Terrorismus (KgT) entwickelte "Kinkelinitiative" ist davon nicht der Anfang, nur der bisherige Höhepunkt. Die vom Verfassungsschutz seit Mitte der 80er Jahre entwickelten Linien eroberten die Politik: Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Lösung wird entweder sicherheitspolitisch begründet: "man muß der RAF und dem Umfeld das Thema Gefangene nehmen - dann hört es schon von allein auf", oder als notwendiger Schlußstrich hinter einem Anachronismus ("70er Jahre") eingefordert. Das hat nicht nur auf unsere Seite abgefärbt, dem wurde auch nichts entgegengesetzt. Sätze wie, daß es, solange es Gefangene gibt, auch die Guerilla geben wird, haben diesen Trend noch verstärkt. Die können nur dann durch "Zurücknehmen" wirkungslos gemacht werden, wenn sie keine Bedeutung haben. Tatsächlich aber war Hanna Cash's "Auf ins Offene"(...Messer!) vom Frühjahr 1991, obwohl ungeliebt, auch schon damals in der politischen Fragestellung Ausdruck des Denkens von vielen - als wenn die Guerilla keine andere Daseinsberechtigung hätte, außer den Gefangenen. So ist die absurde Situation entstanden, daß der Staat selbst daraus politischen Gewinn schlagen kann, daß er 20 Jahre lang nicht gegen die Gefangenen durchgekommen ist.

Spätestens seit Januar '92 eroberte sich der Staat zur Definitionsmacht ein Erpressungskalkül. Die Ankündigung aus dem Justizministerium, bei "wohlwollender Prüfung" einige langjährig gefangene Genossinnen und Genossen zu entlassen, war immer an die Bedingung eines Kniefalls geknüpft. Vielleicht das erste Mal überhaupt konnte der Geiselstatus der Gefangenen aus der Guerilla politische Wirkung bekommen. Jede Haftverschärfung, wie das Isolationssystem selbst, wurde seit Anfang der 70er Jahre damit begründet, daß entweder die Gefangenen den Kampf aus dem Knast heraus fortsetzen bzw. die Guerilla Aktionen macht. Jetzt lautete die Botschaft an die RAF: Wenn ihr was macht, kommt keine Gefangene, kommt kein Gefangener raus.

Offensichtlich war schon im Januar, daß die RAF keinen bewaffneten Angriff in dieser Situation durchführen kann. Es hätte niemand verstanden; die weiter verschlossenen Gefängnistore wären den GenossInnen verantwortlich ans Bein gebunden worden. Nicht nur in der veröffentlichten Meinung der Medien von TAZ bis FAZ. Bis ins linksradikale Lager wäre eine Polarisierung gegen die Guerilla gelaufen. So sind wir alle Teil des Drucks auf die RAF gewesen.

Seit Oktober/November '92 heißt es von einigen Gefangenen, im ANGEHÖRIGEN-INFO und in Stellungnahmen von Solidaritätsgruppen: "Der Staat hat dicht gemacht - die politische Möglichkeit, die sich im Frühjahr bot, ist vorbei."

Was bringt uns diese Feststellung, die die "politische Möglichkeit" gar nicht definiert. Aber auch nicht sagt, was jetzt ist, oder zumindest, was passiert ist: innerhalb eines Jahres wurde die RAF, die Gefangenen, die sich damit im Zusammenhang verstehende Linke neutralisiert, politisch entwaffnet. Oder meint es die Behauptung, daß sich an der Frage der Gefangenen, konkreter: am Verlauf der "Kinkel-Initiative" zeigt, inwieweit sich Konflikte in der Gesellschaft politisch lösen lassen? Nicht erst jetzt können wir sagen, daß diese Einschätzung ohne realen Boden war.

Ende Oktober stellte ein gefangener Genosse aus der RAF fest, daß die "Kinkel-Initiative" "ihren Realitätsbeweis schuldig geblieben" und der Entspannungsprozeß politisch tot sei. Dem staatlichen Vorstoß seit Januar wird eine Intention unterstellt, die er selbst nicht hatte. Um, sozusagen, das falsche Bewußtsein über Ziele und Zwecke staatlichen Handelns einzuklagen? Ziemlich gewagt ist das schon. Es setzt dieses falsche Bewußtsein fest.

Die prompte Antwort der niedersächsischen Justizministerin war noch nicht einmal gelogen: sie ist weiter an dem "Entspannungsprozeß" interessiert, sie wartet auf die Anträge der Gefangenen... und überhaupt, gerade wurde die Entlassung von Bernd Rößner beschlossen. Wieder ein Tag später folgte eine Erklärung aus Celle. Ihre wesentliche Aussage war der den Gefangenen von der Regierung abverlangte Satz, sich dem bewaffneten Kampf nicht mehr anzuschließen. (Was, selbst wenn es gewollt werden würde, kaum denkbar erscheint nach 17 Jahren Isolationshaft. Da stehen ganz andere Schritte an. Das sagen alle die rauskommen.) Im Verhältnis dazu scheint alles andere in dieser Erklärung gesagte wie ideologisches Beiwerk; selbst die Behauptung, daß es die Voraussetzungen für diesen Kampf gar nicht mehr gibt. Von wegen: der Entspannungsprozeß ist tot. Es läuft doch - allerdings so, wie es die Regierung will.

Das war ihre Message der von Anfang an. Das Justizministerium sichert die wohlwollende Prüfung von 2/3-Anträgen zu, Haftentlassungen gibt es nur im Rahmen der Strafvollzugsordnung, also streng nach den Vorschriften des Gesetzes, geprüft wird nach dem individuellen Verhalten der/des Gefangenen. Etwas anderes hatte der Justizminister nie behauptet. Genau das hat er auch in Tutzing im Mai '92 gesagt, unterstrichen mit dem Satz: Es passiert nichts mehr im Zusammenhang Gefangene, wenn die RAF was macht, sogar: "draußen darf nichts mehr passieren". Das blieb unwidersprochen; nicht nur dort. Diese ausgeweitete Erpressung hätte diskutiert werden müssen, nicht diese Albernheit, die Tutzinger Runde "Geheimgespräche" zu nennen (Diskussion im ANGEHÖRIGEN-INFO). In diesem Streit hat sich nochmal scharf gezeigt, daß es drinnen wie draußen auch in der "Gefangenenfrage" keinen diskutierten allgemeingültigen Rahmen, sprich: nicht die notwendigen Umrisse einer politischen Kampagne gibt. Dann ist es auch irrsinnig sich zu beschweren, nicht gefragt worden zu sein. Oder sich über diese Beschwerde aufzuregen.

Die allgemeine Akzeptanz der "Kinkelinitiative" ist auch eine des Kräfteverhältnisses, das eine Freilassung der Gefangenen außerhalb der Gesetze unmöglich erscheinen läßt: gegenwärtig werden die Gefangenen nicht "freigekämpft". Nichts anderes heißt es, wenn eine Lösung nur im Rahmen der Legalität und des Rechtsstaates gesehen wird. Genau das wurde nicht zum Ausgangspunkt der weiteren Schritte gemacht. Darüber wurde öffentlich nicht diskutiert.

In dieser Situation haben wir uns eine Kraft gewünscht, die unverfroren das getan hätte, was dann zu tun ist: eine Amnestie zu fordern. Bei einer Amnestie geht es zumindest immer um eine politische Lösung, und nicht um das individuelle Verhalten, wie es gegenwärtig läuft. Daß diese Situation überhaupt entstehen konnte, ist unsere Verantwortung und Niederlage.

Wir hatten kurzfristig auch ernsthaft überlegt, ob wir nicht selbst eine Amnestie-Initiative starten. Wir haben es verworfen - das hätte uns niemand abgenommen. Und: Als Initiative aus der revolutionären Linken ist die Frage der Amnestie eine mehr als zweischneidige Sache. Die Gefahr ist, sich selbst das Wasser für die Zukunft abzugraben. Wenn schon fast alle, von der 68er- bis zur 86er-Linken das Ende herbeisehnen, dann können wir nicht in die gleiche Richtung reden, auch wenn unser Neuanfang was anderes meint als den altbekannten Einstieg in den Ausstieg.

Wir essen kein Brot, sondern Reklame

Internationalismus, Soziale Frage, Organisierung

Das, was uns den Verhältnissen gegenüber fremd macht - die Totalität kapitalistischer Eroberung des 24-Stundentages, die Durchdringung und Beherrschung des Lebens, - ist zugleich aber auch das, was uns festhält und nicht über das bestehende System hinausdenken läßt. Revolutionäre, also diese Verhältnisse umwälzende Politik muß deshalb auch von der Gesamtheit der Verhältnisse ausgehen, um eine Subjektivität freizusetzen, die die gleiche Totalität hat. Entfremdung ist auch das Auseinanderklaffen von objektiver und subjektiver Reife der Situation; vereinfacht und zugespitzt ist es in jeder Unfallsituation wiederzufinden: alle gaffen zu, kaum ein Mensch macht die notwendigen Handlungen um zu helfen.

Genau das ist der Ausgangspunkt revolutionärer Politik in den Metropolen. Wir essen kein Brot, sondern die Reklame. Brauchen wir noch einen anderen Grund, wenn es ganz offensichtlich so ist, daß die Verhältnisse eine andere Gesellschaftsordnung nicht nur notwendig, sondern auch möglich machen? Und, ist es nicht der entscheidende Widerspruch, daß gleichzeitig unsere Fähigkeit, "uns", die unterdrückten Menschen, überhaupt als Subjekt zu denken, gebrochen ist? Keine Beleidigung der Wölfe. Aber die "Wolfsgesellschaft" ist unsere zweite Natur.

Revolutionäre Politik in einem Land wie Deutschland, metropolitan und menschlich vergiftet, ist, die objektiv rebellische Wirklichkeit freizukämpfen von dem, was unsere Bedürfnisse und Hoffnungen, unsere Subjektivität in Fesseln legt und aufsaugt.

Alle, tatsächlich alle sozialen Kämpfe, die beginnen unmittelbare Bedürfnisse und Interessen der unteren Klassen einzufordern können einen antagonistischen Widerspruch in die Gesellschaft setzen. Die "Vermittlungsinstanz" zwischen diesen Bedürfnissen ist der Staat, wo es sich nicht mehr über den Markt regeln läßt, weil die Kohle kaum zum Leben reicht. Staatlicherseits bleibt da aber nichts anderes als die verschleierte Ausmerzung; die so formulierten Bedürfnisse sind nichts anderes als ein Hindernis in der Reproduktion der bestehenden Ordnung. Die Einschätzung fast aller, selbst der noch so reformistischen Vereine und Lobbygruppen der sogenannt "sozial Randständigen" stellt die zunehmende Brutalität und Systematisierung der Ausgrenzung fest. Aber Ausgrenzung ist nur ein anderes Wort für soziale Vernichtung.

Gegen Staat und Kapital ist die Aneignung des Lebens der unauflösbare Widerspruch. Bloß haben die daraus entstehenden Kämpfe in diesen Machtauseinandersetzungen - und nichts anderes sind sie - noch überhaupt keine Perspektive, drehen sich ständig im Kreis und können sich gar nicht entfalten. Eingekreist von Repression und Konsumideologie, ist es nicht so einfach sich die Autonomie gegen den Staat zu erkämpfen.

In der Bundesrepublik West, nach der Geschichte: als Klasse zerschlagen und verstaatlicht von DAF (Deutsche Arbeitsfront) bis DGB, zerstört im System von Terror, Taylorisierung und Reform, bleibt kaum was anderes als sich davon außerhalb zu stellen. So ist schon dieser Begriff von Befreiung, als Notwendigkeit und Möglichkeit einer grundsätzlichen Umwälzung der Verhältnisse gedacht, gekoppelt an die Frage von Macht und Gegenmacht. Nur eine Konfrontation kann die Einkreisung und Verstaatlichung "des Sozialen" aufbrechen und freisetzen, was an revolutionärer Sprengkraft in den Verhältnissen steckt.

Revolutionäre Strategie ist deshalb - auch wenn wir es kaum noch zu sagen wagen - kein Aktionsplan für den nächsten Monat, sondern "nur" die Vorstellung der Organisierung der subjektiven Seite des Widerspruchs: wohin, mit wem und wie. Der Ort des Kampfes ist ausgemacht; es sind die sozialen und politischen Verhältnisse in denen wir leben. Immer dort, wo sich die Widersprüche nicht unauflösbar machen, wo sie gebrochen werden in der Totalität der von der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise ausgehenden Macht. Es ist die Organisierung des sozialen Krieges gegen die Bourgeoisie, ein unmittelbarer Kampf für die soziale Revolution. Früher hieß das: Kommunismus als Sofortprogramm.

Zu den Voraussetzungen unseres Kampfes gehört der Begriff der Metropole im internationalen System des Imperialismus. Die Metropolen sind Bedingung und Wirkung zugleich: sie sind zentral für die Aufrechterhaltung und Ausdehnung der HERRschaft des Kapitals weltweit, für die Expansion des Marktes, für die Zurichtung der Welt als Fabrik, die "Neuordnung der Weltwirtschaft", die Eroberung der Weltherrschaft. Ein Befreiungskampf in unseren Ländern wird denn auch erst systemsprengend, wenn er diese zentrale Bedeutung der Metropolen angreift.

Das können wir als Hypothek, als Belastung, Schwierigkeit sehen. Oder als einzige Möglichkeit der Befreiung überhaupt, wenn wir uns Revolution nicht als begrenzte Änderung politischer Verhältnisse, sondern in der Dimension radikaler, fundamentaler Umwälzung der bestehenden Verhältnisse im nationalen wie internationalen Maßstab vorstellen. Auf der politischen wie der sozialen, der ökonomischen wie der kulturellen Ebene.

Aber so eine umfassende Vorstellung von Befreiung ist aus der Metropolenrealität allein nicht zu entwickeln. Ohne sie ist es aber auch nicht möglich. Diese Realität ist trotz und wegen ihrer bis ins Letzte gehenden, alles erfassenden kapitalistischen Verdinglichung nur ein Ausschnitt. Das Leben im Imperialismus erfaßt sie nicht. Es gibt mehr als den metropolitanen Alltag. Ein, wie wir ihn verstehen, umfassender Begriff von Befreiung ist allerdings nicht ein noch so fundiertes Wissen über den Imperialismus, die Weltwirtschaft, das Patriarchat usw. Das gibt es heute massenhaft. Vielleicht nirgendwo auf der Welt gibt es z.B. mehr verbreitetes Wissen über die Lage in "3.Welt"-Ländern als hier. Kampf um Befreiung kommt daraus nicht zwangsläufig. Daraus können sowohl "Brot für die Welt" die Konsequenz sein, wie die Forderung nach dem endgültigen Dichtmachen der "Festung Europa".

Der "Ort", wo dieser Begriff entstehen und wachsen kann, ist die Bewegung der Gesamtheit der Widersprüche im Imperialismus, also des Kampfes. Revolutionäre Identität ohne diese internationalistische Position kippt früher oder später immer wieder in populistische oder reformistische Politik.

Zusammen mit den am meisten unterdrückten und gedemütigten Menschen dieser Welt zu kämpfen - dieser strategische Bezugspunkt der revolutionären Fraktionen nach 1970 - durchbrach deswegen auch alle politischen Konzepte der Linken. Diese waren fixiert auf die Metropole - auf die weiße ArbeiterInnenklasse, die unzufriedenen Mittelschichten oder die sich herausbildende "Szene". Geradezu zwangsläufig waren da Reformismus und Nationalismus die Folgen. Heute münden sie bei vielen in Konzepten eines alternativen Imperialismus, der Verteidigung der abendländischen Kultur und eines nur mühsam gebremsten Rassismus. Die revolutionäre Linke dagegen hatte sich daran orientiert, daß der Reichtum der Metropole auf der Armut und Unterdrückung der Völker basiert und dies ein Ausgangspunkt für jede radikale Politik sein muß. Um in einem Land wie der Bundesrepublik überhaupt eine revolutionäre Veränderung denken zu können, war es notwendig in einem strategischen und taktischen Zusammenhang mit den Befreiungskriegen der unterdrückten Völker zu kämpfen. Eingebettet war das in einem weltweiten Diskussionsprozeß, der mit Che's "Schafft zwei, drei viele Vietnams" eine reale Möglichkeit eröffnete: Das imperialistische Weltsystem von allen Seiten her einzukreisen und auch "Im Herzen der Bestie" eine kämpfende Front zu eröffnen.

Bis in die 80er Jahre war dies eine realgeschichtliche Möglichkeit, trotz aller Niederlagen, trotz des Rollbacks durch die imperialistischen Staaten. Deshalb war auch eine so orientierte Guerilla und Militanz mehr als eine Methode, eine Technik des Kampfes. Als internationalistische, gleichzeitig aber auch innergesellschaftliche Politik, lag darin die Möglichkeit der Ausweitung in die soziale Gegenmacht, die mehr umfaßt als die Szene.

Nicht erst der Zusammenbruch des "realen Sozialismus" hat diese Perspektive zerstört. An der Sowjetunion hat sich außer der DKP niemand orientiert. Aber irgendwann wurde das "objektive Hinterland der Weltrevolution" wohl doch mehr; z.B. in Flugblättern zu den Prozessen gegen das SED-Politbüro und seine Kundschafter klingt es heute manchmal so, als wären alle heimliche DKPisten gewesen - wenn auch mit anderer Konsequenz.

Daß es den imperialistischen Staaten dagegen gelungen ist mit Contrakriegen und Hungerpolitik die Befreiungsperspektive im Süden zu zersetzen, hat tiefgreifende Auswirkungen. Genauso wie, daß es nicht gelungen ist, die mannigfaltigen Aufbrüche und Rebellionen in den Metropolen gegen die HERRschende Normalität in eine soziale und kulturelle Autonomie und Identität einer "Gesellschaft von unten" zu entwickeln.

Für viele ist antiimperialistische Politik "abstrakt" geworden, sowas wie Außenpolitik, gegen imperialistische Einmischung usw. Aber imperialistische Politik, auch die offene kriegerische Durchsetzung des Kapitals gegen den "Süden" und "Osten" hatte und hat nicht dort sein Ziel und Zweck. Sondern: Die erweiterte Reproduktion dessen, was es an Reichtumsproduktion und gesellschaftlicher Organisierung hervorgebracht hat, also im Kern die MetropolenHERRschaft. Das ist die Existenzweise des Kapitals. Sie ist nur möglich in der Ausdehnung der kapitalistischen Sphäre in der extensiven und intensiven Ausweitung der Ausbeutung. Das ist die erste in der dritten Welt, und die dritte in der ersten Welt. Im Kapitalismus haben die Metropolen Avantgardefunktion. Die Frage war und ist immer, ob die revolutionären Kämpfe gegen die imperialistischen Verhältnisse in den Metropolen Avantgarde sind.

Nicht abstrakt, aber absurd wird der Rückblick auf die eigene Geschichte, wenn ihr Bezugspunkt nachträglich völlig anders bestimmt wird. "In den Jahren zuvor hatten wir in unserem revolutionären Kampf als zentrale Bestimmung, die internationale Situation mit unseren Aktionen hier reinzuholen", schreiben AntiimperialistInnen im September 1992. Aber tatsächlich hatten sie den Verhältnissen hier den Krieg angesagt, aus Gründen, die in diesen Verhältnissen liegen. Wenn etwas "reingeholt" werden sollte, dann der weltweit stattfindene Befreiungskrieg, damit er hier aus seiner Fesselung "rausgeholt" werden kann. Vielleicht war das der schiere Wahnsinn, aber immer noch vernünftiger als nebulöse "internationale Situationen". Die eigene Radikalität ist so ungeheuerlich, daß vor der Dimension der eigenen Ziele zurückgeschreckt wird. Andere, die von Anfang an dabei waren, bringen das auf die noch kürzere Formel: "Wir wollten auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam machen".

Eine Reaktion auf diesen Zusammenbruch ist die Entdeckung "konkreter Probleme und konkreter Lösungen". Es ist gerade diese Gegenüberstellung, die hindert es als was anderes zu begreifen als die bloße Umkehrung. Keine Wiederentdeckung von Verlorenem, zumindest eine Erweiterung, sondern es tritt an die Stelle. Es wird Rezept, und schon sind wir wieder dort, wo vermeintlich aufgehört wurde: Ideologisierung der eigenen Praxis. Das Selbstverständliche, das ganz sicher nicht mehr selbstverständlich war, wird zum Besonderen. Der Mietstreik war auch vor 10 oder 20 Jahren die konkrete Antwort auf den Mietwucher; gegen Obdachlosigkeit half schon immer eine Hausbesetzung; ohne Selbsthilfe und Eigeninitiative wäre kein einziges Frauenhaus geschaffen worden. Das alles war schon immer verdammt wichtig. Das ist gar keine Frage, sondern nur, warum sich mal dagegen entschieden wurde? Und: Wenn es früher nur im Gegensatz gedacht werden konnte, warum wird nicht genau das für den Fehler gehalten?

Stattdessen wird meist objektiviert ("die Situation hat sich verändert") oder ideologisiert ("antagonistische Stadtteilarbeit", "Waffe der sozialen Bewegungen"). Um mit diesem Schematismus zu brechen, braucht es die freie Entscheidung in die Notwendigkeit. Sonst wird es Selbstbetrug.

Für die notwendigen Veränderungen in unseren politischen Vorstellungen und Handlungen brauchen wir keine Illusionen. Die Entwicklung ist viel widersprüchlicher. Es spricht rein gar nichts dafür, daß für den Staat an sozialen Brennpunkten politische Vernunft (wenn es überhaupt richtig ist, die anders herausgeputzte politische Ausmerze von Fundamentalopposition so zu nennen) die Maxime ist. Überhaupt sind Reform und Repression schon seit ihrer Gründung in der Bundesrepublik sich ergänzende oder ablösende, im jeden Fall staatsmachtsichernde Varianten der HERRschaft gewesen. So bleibt auch der Widerspruch, daß militante und bewaffnete Gruppen in der BRD in einer Phase entstanden, als Staat und Gesellschaft von oben ("Mehr Demokratie wagen", "Die alten Zöpfe abschneiden" - so die Wahlslogans von SPD und FDP 1968) und von unten (von der Studi-, Jugend-, Frauen- bis zur Alternativbewegung) reformiert wurde.

Das hatte gute Gründe, zumindest soweit, wie sich als revolutionäre Bewegung verstanden wurde, eine Revolution zum Ziel gesetzt war und keine Reform. Diese Entscheidung, die alles andere zur Folge hatte, läßt sich doch nicht revidieren, in dem heute Bürgerinitiativen (deren Hochphase übrigens damals war) Ausgangspunkt für eine Neuentscheidung sind.

Heute ist nicht mal eine bürgerliche Reformbewegung in Sicht. Willi Brandt ist dieses Jahr gestorben. Das von ihm und Helmut Schmidt verkörperte "Modell Deutschland" und 10 Jahre CDU-Kohl haben die reaktionäre Umkehrung bewirkt. Wie ist es nur möglich, einige aufgeklärte Imperialisten an der Staatsspitze für was anderes zu halten, als das was sie sind?

War die Meinung der 80er-Jahre-Bewegung von sich selbst, und die der RevolutionärInnen von ihr, die, den Bruch mit dem imperialistischen System und der bürgerlichen Gesellschaft hinter sich und unauflösbar gemacht zu haben - hat sich das längst widerlegt. Zu Brechen mit etwas heißt nicht, einen Standpunkt einzunehmen. Der kann verlassen werden. Der Bruch ist die KÄMPFENDE Bewegung des Widerspruchs. Über die Beschwörung "des Sozialen" und der konkreten Lebensbedingungen in den Metropolen nimmt hinterrücks wieder der Reformismus und metropolitane Überheblichkeit Einzug in die revolutionäre Bewegung. Die eigene Desorientierung und Bewegungslosigkeit mündet in einen Populismus, für den die Lindenstraße ein Biotop voller Radikalität ist. Die gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland, in Europa zwingt zum Handeln und für Beschaulichkeiten dieser Art ist eigentlich keine Zeit.

Dabei haben wir heute eine gute Chance. Angesichts der reaktionären Entwicklung, deren Bewußtseinslage quer durch alle Schichten und Klassen der Gesellschaft geht, können Illusionen kaum aufkommen. An jedem Punkt schlagen wir uns mit dem Widerspruch herum, daß der Pesthauch des "weißen Mannes" selbst die Kämpfe um unmittelbare Bedürfnisse und Ziele der Unterdrückten vergiftet. Und trotzdem gibt es keine Alternative, als im Volk und mit dem Volk darum zu kämpfen, die eigenen Sachen auch in die eigenen Hände zu nehmen. Wie sonst und mit wem sonst? Wie anders als im Kampf um Befreiung, könnten wir auch unsere Herzen und Hirne befreien und den ganzen Dreck loswerden.

Deshalb geht es nach wie vor darum, Verbindungslinien zu schaffen, zu denen, die mit dieser Entwicklung der Reaktion nicht einverstanden sind. Der Kampf der nächsten Jahre muß auf verschiedenen Ebenen geführt werden, die aber in sich eine Verbindung haben und herstellen zu jedem emanzipatorischen Prozeß, der im Entstehen ist. Das kann nicht dem Zufall überlassen bleiben. Da sind wir ziemlich schematisch. Deshalb wollen wir es wissen, wer wie mit welchem Ziel zusammen ist. Auf der Basis werden wir uns mit allen verständigen. Das verlangen wir: Einerseits Bildung revolutionärer Kollektive, ihr bundesweiter Zusammenschluß zu einer organisierten handlungsfähigen Struktur mit klaren Mechanismen politischer Diskussion und Entscheidung. Wie sie sich organisieren, hängt davon ab, was sie sich vornehmen. Andererseits Aufbau von und Mitarbeit in Basiskomitees für unmittelbare Ziele, perspektivisch ihre Erweiterung zu "Volksorganisationen". Dieser Aufgabe müssen sich viele verschreiben.

Solange allerdings jede kleinste Initiative kein wirkliches Leben entfalten kann, weil sie mehr sein soll als sie sein kann, ist gesellschaftliche Organisierung von unten zum Scheitern verurteilt. Wenn es nur so geht, und die GenossInnen die Widersprüche nur dann aushalten, wenn in einer Flüchtlingsinitiative Flüchtlinge zum revolutionären Subjekt ideologisiert werden, der Widerstand gegen eine Schnellstraße zum Focus eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandels, die Besetzung eines Hauses in den Rang der Eroberung der Produktionsmittel... na, dann gute Nacht. Revolutionärinnen und Revolutionäre müssen sich zusammenschließen. Eine Stadtteilgruppe kann das nicht ersetzen. Aber sie müssen auch in Basiskomitees mit anderen Menschen für konkrete Ziele kämpfen. Für uns ist das keine Faustregel, sondern ein politisches Verhältnis! Nur so kann das Eine wie das Andere überhaupt in Gang kommen. Ansonsten stehen sich permanent Interessen, Bedürfnisse und Notwendigkeiten im Weg. Nichts passiert. Was gibt es Nervenderes, als in einer antirassistischen Initiative zu sein und ständig belabert zu werden, was alles notwendig wäre, um die Schweine zum Teufel zu jagen. Während das, deswegen Du Dich zusammengetan hast, nicht von der Stelle kommt. Umgekehrt ist es zum Kotzen schrecklich, in einer revolutionären Gruppe zu erleben, daß andere es für ein Plenum halten, wo heute über dies und morgen über jenes geredet werden wird.

Wir wollen keine Organisationsdebatte! Die wird das politische Problem der Linken hier nicht lösen. Die KParteien haben wir hinter uns. Organisation ist nicht automatisch selbstbewußte und reale Organisierung. Die kann nur in einem lebendigen Diskussions- und Praxis-Prozeß entstehen, der um die Einheit kämpft. Nicht nur Einheit im Kampf, sondern auch die Unterschiedlichkeit der Kämpfe muß erkannt werden, genauso die Notwendigkeit, daß sie zusammen gehören.

Bisherige Konzepte waren unter anderem deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie die Politik der HERRschenden falsch eingeschätzt, oder ihre Fähigkeit, die Kämpfe zu umarmen, bis sie ersticken, unterschätzt haben. Wir werden andere Konzepte brauchen, aber uns auch einen anderen Begriff von Langatmigkeit erkämpfen müssen. Sicher kann sich unser Prozeß von Aufbau nicht als Modell vorgestellt werden; das wäre eine Organisationsdebatte.

Die gesellschaftliche Entwicklung ist an einem Wendepunkt, oder kann zu einem werden. Nicht sofort und auch nicht morgen. Autoritäres Regime von oben, ob nun unter CDU oder SPD, plus Straßenfaschismus markieren die reaktionäre Entwicklung. Aber ausgemacht ist nicht, daß die verbreitete Unzufriedenheit nicht zu radikalen Kämpfen an all den unendlichen Brennpunkten führt. "Kein Land in Sicht" sagen diejenigen, für die am Ufer kein Empfangskomitee steht. Darauf kommt es nicht an. Nur auf die eigene Praxis, widersprüchlich - aber ideologiefrei.

Den Krieg ansagen bedeutet heute aus der Lage der eigenen Schwäche heraus die Handlungsfähigkeit zurückzuerobern. Das setzt den Willen voraus, wirklich in die Diskussion einsteigen zu wollen. Nicht nur in Debatten, sondern als einen Prozeß von Aufbau und Organisierung, aus dem sich ein neu definierter politischer Rahmen entwickeln muß. Ein paar Punkte, die wir für wichtig halten, haben wir versucht zu benennen. Wir sind nicht so vermessen anzunehmen, wir oder überhaupt eine Gruppe allein könne das Problem der fehlenden strategischen Vorstellung lösen. Notwendig ist, sich die Struktur zu überlegen, in der eine umfassende Diskussion überhaupt laufen kann. Diese Auseinandersetzung wird sicher nicht in erster Linie in Zeitungen wie INTERIM oder ANGEHÖRIGEN-INFO stattfinden können. Dafür müssen wir, die auf diese Auseinandersetzung aus sind, andere Wege finden.

Auch deshalb, weil diese Diskussion nicht wie bisher in der politischen Anonymität geführt werden kann. Die eigenen Ziele und die konkreten Vorstellungen ihrer Umsetzung bleiben verborgen, weil nicht faßbar wird, was die Leute eigentlich selbst machen, wie sie sich organisieren, wo sie mit ihren Sachen hinwollen.

Wenige durchbrechen diese Anonymität. Eine Gruppe ist sicher die Antifa-M/ Antifaschistische Aktion-Organisation. Das macht sie uns sympathisch. Noch wirkt aber ihr öffentliches Auftreten manchmal wie eine Klamotte. Sie wagen den Versuch, eine Organisation zu gründen, um einen Weg aus der alles blockierenden Überhöhung durch vermeintlich revolutionäre Ansprüche schon im kleinsten Ansatz bei gleichzeitiger totaler Weigerung sich zu organisieren zu finden. Auch wenn sie an der Organisationsfrage anfangen, wird sich in den nächsten Jahren ein Ergebnis herausbilden, mit dem alle weiterarbeiten können.

Wir haben gesagt, daß wir mit allen radikalen und revolutionären Kräften in diesem Land um einen neuen Prozeß kämpfen wollen. Der Rahmen ist für uns nicht die Frage für oder wider Militanz zu sein. An den Mitteln oder Formen werden wir uns nicht orientieren. Er muß an den Koordinaten Befreiung oder Niederlage jedes emanzipatorischen Aufbruchs der Menschen entlang entwickelt werden. Dieser Prozeß ist weder einfach noch schnell, geschweige denn eine Frage von vollmundigen Bekundungen für die Revolution an sich und überhaupt, sondern es wird ein zähes Ringen um gemeinsame Vorstellungen, der notwendigen Praxis und Verständigung sein.

Verrat? Die Notwendigkeit umzudenken, Strategie und Taktik des Kampfes zu reflektieren und daraufhin zu überprüfen, ob und was davon noch taugt, braucht keine andere Begründung als die eigene Entwicklung. Die weltweiten Veränderungen und eine andere innenpolitische Situation dafür anzuführen, ist letztlich auch nichts anderes, als die Grenzen in der eigenen Entwicklung zu objektiven Grenzen zu erklären. So wird der eigene Schritt politisch und geschichtlich zwingend. Eine Gruppe handelt da kaum anders als wie eine einzelne Person, die vor den Schwierigkeiten kapituliert, aber grundsätzlich und überhaupt die Bedingungen des Kampfes verändert behauptet.

Wir müssen uns deshalb immer wieder klarmachen, auf welcher Seite wir stehen. Auf der, die nach gemeinsamen Lösungen "von unten" sucht und die weder die Menschen hier noch weltweit aufgibt. Ein ruhiges Plätzchen ist das nicht. War es nie und wird es in den sich ankündigenden harten Zeiten erst recht nicht sein. Aber das allein reicht natürlich nicht, um die Gewalt aufzuhalten. Es wird weiter draufgehauen und die Profit- und HERRschaftsinteressen durchgepowert. Diese Wirklichkeit verlangt zorniges Eingreifen, jeden Tag. Die Gründe für revolutionären Kampf vervielfachen sich. Da kommen wir kaum hinterher. Den Leuten, denen die Wut aus den Herzen schreit, die es nicht mehr aushalten, sich von Bullen und Bürokraten schikanieren zu lassen, können mit den Sprüchen von "sinnloser Gewalt" nichts anfangen. Diesen Widerspruch können wir nicht wegreden. Wir müssen ihn aushalten - oder leben.

NO JUSTICE ! - NO PEACE !

Kein Friede, Dezember 1992