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28.06.2007

Offener Brief von attac Leipzig an den Ko-Kreis zur Strategie und Medienarbeit sowie zum weiteren Vorgehen zu den G8-Protesten

Liebe Freunde,

Es wurde seit dem Gipfel schon eine Menge geschrieben und gesagt, auch wir haben mehr und genaueres über die Abläufe und Eure Gedanken dabei und dazu erfahren. Deshalb beschränken wir uns hier auf die Sachen, die unserer Meinung nach bisher in der Debatte zu kurz gekommen sind, oder ganz elementar und wichtig sind. Zunächst jedoch ein großes und herzliches "Dankeschön!" an alle, die viel Zeit und Kraft in Vorbereitung und Durchführung gesteckt haben und jetzt quasi gezwungenermaßen noch mehr in die Nachbereitung stecken müssen.

Worüber müssen wir nicht reden: "Die Gewaltfrage" als großes umfassendes Ganzes kann getrost unter den Tisch fallen, auch wenn sich Medien und Bewegungsteile jetzt Tage- und Monatelang damit beschäftigen. Alle Beteiligten sind sich einig, dass an diesem Samstag in Rostock jegliche Gewalt unerwünscht war und enorm kontraproduktiv gewirkt hat. Das ist unserer Ansicht nach in der Bewegung Konsens und braucht insofern nicht immer wieder durchargumentiert zu werden.

Worüber wir sprechen müssen, sind unsere Fehlleistungen in der G8-Woche, die momentane medial-gesellschaftliche Lage dazu, unser weiteres aktuelles Vorgehen und langfristige Konsequenzen.

Problematisch waren aus unserer Sicht:

1. Die Rolle, die attac teilweise in den Medien und gegenüber den Bündnispartnern eingenommen hat

2. Die Kurzsichtigkeit der Stellungnahmen auf die Samstagskrawalle

3. Unzulänglichkeiten in der Medienstrategie was die Inhalte anbelangt

4. Einige Unprofessionalitäten im Ablauf

Vorschlagen würden wir

5. Kurzfristige Medienstrategie und Aktionen

6. Einige Konsequenzen für Großereignisse / große Bündnisse

Dazu im Detail:

1. Dass attac als Sprachrohr der Bewegung wahrgenommen wird und dass es einige prominente Gesichter gibt, die dabei für attac stehen ist gut so, denn nur dadurch kann die Bewegung Wirkungsmacht in der Medien"demokratie" entfalten.
Dennoch müssen wir uns bewusst sein, dass weder attac die Bewegung noch einige Prominente ganz attac repräsentieren können und sollten dementsprechend bewusst und verantwortungsvoll damit umgehen. Das heißt z.B., dass wir immer wieder deutlich hätten betonen müssen, dass Demo, Camps und insbesondere Blockaden nicht attac alleine gehören (gerade bei den Blockaden ist dies vielen saue aufgestoßen). Wenn wir uns nur darauf verlassen, dass ohne uns sowieso nichts geht, sind wir auf dem gleichen Weg, der SPD und Gewerkschaften von ihrer Basis entfremdet hat. Es heißt auch, dass wir versuchen müssen, der Neigung der Medien, Menschen als "Vorstände", "Sprecher" und sonstige Repräsentanten von attac zu titulieren, entgegenzuwirken und vor allem, dass, wenn Dinge gesagt werden, die aller Voraussicht nach nicht Konsens bei attac sein können, diese deutlich als die Privatmeinung des Sprechenden geäußert werden. In all diesen Punkten war attac früher schon einmal weiter fortgeschritten und gefestigt.

2. Die G8-Proteste und der zugehörige Polizeieinsatz fanden vor dem Hintergrund eines akuten Umbaus eines Rechtsstaates in einen Präventionsstaat statt, der glücklicherweise auch im bürgerlichen Spektrum ansatzweise wahrgenommen und kritisiert wird. Angesichts der Vorgeschichte und der Versammlungsverbote sowie der anhängigen Klagen dagegen war klar, dass der Verlauf und die mediale Interpretation der Samstags-Demo einen entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf der Protestwoche (und unserer Einschätzung nach auch nennenswerten Einfluss auf die längerfristige Verkaufbarkeit von Sicherheit zu Lasten der Freiheit) haben wird. Angesichts dessen stellt sich zum einen die Frage, wieso nicht eine gründlichere Vorbereitung mit mehr Leuten erfolgen konnte bzw. wieso zu früh "Entwarnung" gegeben wurde. Hier stecken wir zu wenig in den konkreten Zusammenhängen, um darauf eine Antwort zu formulieren oder künftige Handlungsoptionen aufzuzeigen. Es scheint uns jedoch wichtig, zu versuchen, die notwendige inhaltliche und organisatorische Vorbereitungsarbeit künftig stärker an der zu erwartenden Außenwirkung zu bemessen, ggf. zu Lasten anderer Tätigkeiten.
Während es uns verständlich erscheint, dass eine solche Vorbereitung einmal nicht optimal läuft oder Dinge nicht trotzdem nicht verhindern kann, ist uns die Interpretation der Ereignisse, die von attac-Seite den Medien geboten wurde absolut unverständlich. Wie gesagt war die Ausgangssituation die, dass zumindest der Bund ein Interesse daran hatte, dass möglichst wenig Leute zu den Protesten erscheinen, von diesen möglichst viele Daten erhoben werden und sie öffentlich als möglichst kriminelle Spinner dastehen. Inwieweit sich der Polizeieinsatz als ganzes diesen Zielen unterordnete oder nicht und inwieweit es im Lager der Polizei wirklich zwei Fraktionen gab, entzieht sich unserer Kenntnis. Was am Samstag auf jeden Fall schon feststand, war, das nach den Durchsuchungen im Vorfeld, den Behinderungen beim Aufbau einzelner Camps und teilweise dem Vorgehen auf der Kundgebung deutlich war, dass dieser Einsatz zumindest teilweise auch andere Ziele verfolgte, als nur einen störungsfreien Ablauf zu sichern. Im Nachhinein ergibt sich dafür noch eine lange Reihe weiterer Indizien.
Vor diesem Hintergrund war es uns (und so gut wie allen, mit denen wir sprachen) auch am Samstag klar, dass unsere Medienstrategie darauf setzen muss, die nicht akzeptablen Teile des Polizeieinsatzes so stark wie möglich zu skandalisieren, um für die nächsten Tage schlimmeres zu verhindern. Das heisst nicht, dass man sich nicht von gewalttätigen Demonstranten distanzieren darf, es heisst aber, dass man jegliche Verletzung eines lupenreinen rechtsstaatlichen Benehmens der Sicherheitsorgane (und die gab es bekanntlich zu Hauf) mit voller Schärfe anprangern muss. Sätze wie "Insgesamt hat sich die Polizei tadellos verhalten und hat sich an das Konzept der Deeskalation und der Kooperation gehalten. Das wissen wir zu schätzen. (Peter im DLF am 4.6.)" sind daher für uns absolut unerträglich, denn sie ebnen direkt den Weg zu brutalen und unrechtmäßigen Behandlung *aller* Demonstranten in den nächsten Tagen unter dem Beifall weiter Teile der Medien.
Uns wurde berichtet diese Strategie habe auf der Einschätzung basiert, damit sei es möglich, den moderaten Flügel der Polizei zu stärken. Das Gegenteil ist der Fall und es ist uns absolut unverständlich, wie eine solche Einschätzung zustande kommen kann. Loben wir etwa die Weltbank dafür, wenn sie fast ein Öl- oder Staudammprojekt abgesagt hätte, aber es zum Schluss dann doch finanziert?

3. Ebenso stellt sich die Frage nach den thematisierten Inhalten der Konferenz. Auch von unserer Seite wurden Klima und "Geld für Afrika" in den Vordergrund gestellt, also Themen, bei denen sich der Gipfel als (mehr oder weniger) großzügige Weltretter darstellen konnten, wenn man nicht besonders informiert war und nur die Schlagzeilen überflog.
Es stellt sich uns die Frage, ob nicht daneben Themen wie Marktöffnung, Ernährungssouveränität oder geistiges Eigentum, bei denen sich die Interessenlage der G8 weniger unter den Teppich kehren lässt, mehr Raum hätten einnehmen sollen, oder ob dies nicht evtl. sogar jetzt noch geschehen sollte.

4. Am wenigsten klar fass- und benennbar aber für die Beteiligten vor Ort mit am unangenehmsten waren eine Reihe "atmosphärischer Störungen" auf den Camps, in den Blockaden und im Vorfeld und auf den Kundgebungen. Die sind schwer zu benennen, lassen sich aber aus unserer Sicht im Allgemeinen darauf zurückführen, dass zum einen die Vorbereitungen durchaus länger, detaillierter und mit mehr Leuten wünschenswert gewesen wären, um unter anderem klareren Konsens über Stil und Stimmung einzelner Sachen zu erzielen und auch zu kommunizieren. So war einiges von den Vorstellungen und Führungsansprüchen einzelner Gruppen oder Personen (auch attac) geprägt und traf nicht unbedingt den Nerv der meisten Beteiligten. Zu einem gewissen Grad ist das nicht vermeidbar, aber wir hoffen, dass sich aus den alten AGs und Bündnissen dort ein Dialog weiter etabliert, der das zukünftig leichter macht. Dort ist gerade auch attac gefragt, sich ohne Verleugnung der eigenen Bedürfnisse aber auch mit viel Respekt für andere "Kulturen" den Dialog aufrecht zu erhalten und sich auch der Kritik zu stellen.

Zum weiteren Vorgehen schlagen wir vor:
5. Die inhaltliche Debatte über den Gipfel und die Ergebnisse ist weitgehend vorbei (was nicht heissen soll, dass wir nicht bei sich bietenden Gelegenheiten Kritik an den Ergebnissen üben sollten, die nicht nur "unnütz" sondern teils auch ernsthaft schädlich sind). Was noch einmal Chancen hat, ernsthaft in die Öffentlichkeit zu dringen, sind die vielen Skandale und Skandälchen um den Polizeieinsatz. Das sollten wir uns ernsthaft zur Aufgabe machen, gar nicht mal so sehr, um den Ruf der Bewegung zu retten, sondern vor allem, um darauf hinzuwirken, dass der Rechtsstaat in Zukunft eher mal geneigt ist, seine Grenzen zu akzeptieren. Sehr gut wäre es, wenn es dazu einen umfassenden Untersuchungsausschuss gäbe, aber auch so sollten wir die Rechtsverletzungen jetzt genau verfolgen und groß öffentlich machen, und auch praktische Solidarität üben, beispielsweise mit den Menschen mit Augen- und Trommelfellverletzungen von der Blockade am Westtor. Da das Ziel des Einsatzes ja zumindest offiziell die Sicherung des Gipfels und nicht die Kriminalisierung seiner Gegner war, sollten Wir auch nicht versäumen, ab und zu darauf hinzuweisen, dass er dieses glatt verfehlt hat, da es einem als Journalist einer nicht existierenden Zeitung akkreditierten russischen Aktivisten gelungen ist, auf ein paar Metern an Putin heranzukommen. Glücklicherweise in friedlicher Absicht...

Insbesondere bietet es sich aus unserer Sicht an, die Pressearbeit der Kavala noch einmal zum Thema zu machen. Zum einen, weil sie die der für die Bewegung schädlichste Teil des Ganzen war, zum anderen weil sich jetzt, nachdem schon einige Zeit vergangen ist, die Presse nur noch in Ausnahmefällen wirklich für unsere Stellungnahmen interessieren wird. Ein solcher Ausnahmefall kann sein, wenn sie selbst zum Thema wird. Daher schlagen wir vor, (bunte, brave, kreative) Kundgebungen vor den vielen bundesweit verstreuten Niederlassungen der dpa zu organisieren, die die teils offensichtlich abstrusen Kavala-Meldungen ungeprüft weitergeleitet hat, und dabei den dpa-Oberen Gelegenheit zu geben, in Anwesenheit von Reuters & co. zu geloben, künftig ihre Arbeit besser zu machen. Auf diesem Umweg könnte die Sache durchaus nochmal zum breit diskutierten Thema werden und uns eine deutlich bessere Ausgangslage für die Zukunft verschaffen.

Schließlich möchten wir einen Aspekt nicht vernachlässigen: Viele von uns, auch die, die nicht in Gewahrsam waren, haben wohl allen Grund zu der Annahme, dass ihre Daten nun in der einen oder anderen Datei gelandet sind. Sowohl um die staatliche Praxis nicht ausufern zu lassen als auch die eigene Unsicherheit zu bekämpfen, wäre es nicht verkehrt, großflächig dazu aufzurufen und anzuleiten, Anträge auf Auskunft über und Löschung von gespeicherten Daten zu stellen.
Außerdem sollten wir als langfristig sinnvolle und argumentativ schwer abweisbare Forderung immer wieder Dienstnummern auf Helmen und Uniformen in die Debatte bringen.

Längerfristig denken wir, dass:
6. Zum einen die jetzt laufende Gewaltdebatte darin münden sollte, dass viel mehr Leute zu aktiver Deeskalation bereit sind, und sich im Vorfeld von Großereignissen dazu organisieren. Wichtig ist uns dabei, darauf zu achten, dass nicht viele verschiedene Vorstellungen davon unabhängig voneinander agieren, sondern dass möglichst viele Leute, die sich das vielleicht nur persönlich vorgenommen haben, von einer gemeinsamen Strategie und verabredeten Toleranzschwellen etc. erfahren und sich daran halten. Evtl. macht es Sinn, dazu 1-2 Stunden vor einer größeren Aktion ein Vortreffen zu gestalten, wo die Absprachen des Veranstalterbündnisses genau vermittelt werden. Denn glauben, dass es zukünftig vermehrt zu (sowohl berechtigten als auch unberechtigten) Handgemengen innerhalb von Demos kommen wird.

Zum anderen muss, wie oben schon benannt, versucht werden, bei Großaktionen und in großen Bündnissen länger und detaillierter vorzubereiten (insbesondere die zentralen Veranstaltungen mit großer Wirkung nach außen und/oder innen), sofern dies irgendwie möglich ist. attac sollte dabei besonders darauf achten, nicht als zu rücksichtslos oder monolithisch wahrgenommen zu werden, da es aufgrund der großen Medienpräsenz sowieso einer quasi natürlichen Skepsis gegenübersteht.