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2009-05-23

Nochmal zur Hölle in den Zeltstädten

von mumiafree

Nachts die Kälte, tagsüber die Hitze, eine mürbe machende Hitze, besonders für die 120 Evakuierten in Colle Sassa, die zwei Tage lang kein Wasser und nichts mehr zu essen hatten, nichts zu trinken und keine Möglichkeit, sich zu waschen, bis sie nicht protestiert und mit Klagen gedroht haben.

Nachts die Kälte, tagsüber die Hitze. In den Zugabteil-Kojen und in den Zelten kann man vormittags nicht bleiben: die Luft geht aus und das Termomether steigt auf über 30°. Das Mikroklima, die Überbelegung, die schlechten hygienischen Verhältnisse, die späten Lebensmittelkontrollen und die Küchenführung in den Camps begünstigen die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten und von Parasitenbefall.

Bild: l'Aquila

Im Camp Piazza d’ Armi gab es allein heute 50 Gastroenteritis-Fälle und die Kranken werden in den Zelten in Isolation gehalten. Im Camp von Pizzoli gibt es einen eindeutig festgestellten Tuberkulose-Fall, die ersten Videotext-Meldungen sprachen allerdings von 5 an Tuberkulose Erkrankten in L’Aquila. An einer Sache sind wir mit Gewissheit alle erkrankt: an Desinformation.

Der Zivilschutz verspricht Klimaanlagen und Doppelplanen zum Schutz vor der Sonne, derweil wartet man aber immer noch auf Waschbecken in der Nähe der WC-Kabinen und die Ärzte behaupten, dass “es reicht, die Tür einer WC-Kabine zu öffnen, ohne sich hinterher die Hände zu waschen, um Durchfall zu bekommen”. Wisst ihr, was der Zivilschutz einem arbeitslosen Evakuierten geantwortet hat, der um sonnenabweisende Planen und Kühlschränke für das Camp bat? “Siehe zu, dass du sie dir von irgendwem schenken lässt, wir haben keine!”.

Es ist heiß, in den Zelten. Zu heiß. Die Kinder, die Alten, die in die Isolation gezwungenen Kranken, werden es nicht vermögen, über den Sommer zu kommen, und das Feldkrankenhaus ist nicht in der Lage, dem Notstand entgegen zu treten. Trotz der Klimaanlagen übersteigt die Temperatur in den Krankenhaus-Zelten die 30 Grad Marke und die dort untergebrachten Kranken, unter denen sich etwa dreißig Alte befinden, die in den Zelten der inneren Medizin liegen, warten auf die Lieferung von Salszlösungen gegen die Hitze. Um zum Klo zu gehen, müssen jene, die in der Lage sind, aufzustehen, das Zelt verlassen, um die WC-Kabinen zu erreichen. Unterwegs laufen sie Gefahr, über eine weitere Bedrohung zu stolpern – über Vipern, nämlich. Das ist aber nicht alles: seit dem 20. Mai sind die Untersuchungen für ambulant wie stationär behandelte Patienten für eine Woche ausgesetzt, damit die Areale befreit werden können, auf denen das G8-Feldkrankenhaus aufgestellt werden soll.

Dieser verdammte G8, der mit seiner militärischen und finanziellen Eindringlichkeit die Lebensumstände der Aquilaner jetzt schon noch unmöglicher macht. Ein G8, der der Wiedergeburt der Stadt kostbare städtebauliche und wirtschaftliche Ressourcen entzieht und entziehen wird. Die x-te Verhöhnung und Provokation zum Schaden der abruzzischen Erdbebenopfer. Ein G8, wegen dem man 90 Millionen öffentlichen Geldes verschleudern wird, um einen roten Teppich unter den Füßen der 8 Mächtigen der Erde auszurollen (unter den Füßen der abruzzischen Erdbebenopfer dagegen nichts als Erdstöße und Vipern), wegen dem sich die Regierung in aller Eile verwendet, um die 8 Mächtigen der Erde vor etwaigen Protesten in der abgeschotteten und erdbebensicheren Festung in der “Vincenzo Giudice” Kaserne (die schon jetzt 25.000 Evakuierte aufnehmen könnte, oder alternativ dazu, die Universität von L’Aquila) in Sicherheit zu bringen, ein G8, wegen dem man den Evakuierten für die Anpassung des Flughafens in Preturo an die Sicherheits- und Mobilitätsbedürfnisse der 8 Mächtigen der Erde weitere 9000.000 Euro entziehen wird (um die eigenen Sicherheits- und Mobilitätsbedürfnisse müssen sich die Evakuierten selber kümmern, ohne die Ordnungskräfte zu behindern, die zum Schutz des G8 und der höchsten Dichte an Bankdepots in ganz Italien – die L’Aquila mit Sicherheit schon vor dem Erdbeben vom 6. April hütete – aufgestellt wurden), ein G8 wegen dem schon jetzt das Recht auf Mobilität, auf Gesundheit, auf Arbeit, auf Wohnraum, auf Sicherheit der abruzzischen Erdbebenopfer im Verhältnis zu den Privilegien und der Arroganz der Mächtigen und der Regierung in den Hintergrund rückt.

Seit dem 6. April haben wir kein Recht mehr auf Selbstbestimmung, wir haben überhaupt keine Rechte mehr. Die Kranken werden zur Beahandlung aus den Abruzzen weggeschickt und das medizinische Personal verlässt das Territorium, wenn es nur kann, wie es auch das Personal von der Inversität tut. Für die Aquilaner gibt es hier keine Arbeit mehr, hier gibt es nicht einmal ein Minimum an medizinischer Versorgung, die vor dem Erdbeben wohl gewährleistet war. Die Gemeindearbeiter sind arbeitslos und es sind Firmen aus Mailand und Turin, die das Gestein der abruzzischen Steinbrüche für die Camps und den G8 abholen, weil die Steinbrüche, wie sie behaupten, nicht sicher sind, als ob die Firmen aus Mailand oder Turin das abruzzische Territorium besser kennen würden als jene, die seit jeher dort leben. Die Arbeitslosigkeit auf dem aquilanischen Territorium, die bereits vor dem Erdbeben sehr hoch war, hat jetzt ein für ein zwischen einer Gegenwart aus Zeltstädten und Hotelghettos und einer Zukunft aus new-towns derart fragmentiertes und zertsreutes soziales Gefüge unerträgliches Niveau erreicht. L’Aquila entstand aus dem Zusammenschluss von 99 Dörfern, die einen Pakt besiegelten, um den Schikanen der Feudalherren zu entkommen und allen die gleichen Bürgerrechte und die Nutzung von kollektiven Besitztümer wie Wälder und Weiden zu sichern. Diese Camps, die künftigen new towns, werden die Uhr dieser Stadt um mindestens acht Jahrhunderte zurück drehen.

Es ist heiß, viel zu heiß, in den Zelststädten, und man geht vor Langeweile ein. Wer zuvor eine Arbeit hatte, wenn auch eine prekäre, hat sie jetzt nicht mehr, und tausende Familien haben kein Einkommen mehr, mit de sie rechnen können.

Weder die zentrale Regierung, noch die Lokalverwaltungen haben sich konkret bemüht, die wirtschaft des Territoriums wieder zu beleben, in dem sie offensichtlich durch politische und wirtschaftliche Interessen geprägte Spekulationen zu Ungunsten des menschlichen Gefüges begünstigt haben. Die für den Verbrauch in den Camps vergeblich dem Zivilschutz angebotenen Produkte aus der lokalen Land- und Viehwirtschaft bleiben unverkauft und müssen vernichtet werden. Es sind die großen Vertriebsketten und nicht die kleinen indigenen Produzenten, die am Notstand verdienen. Die Evakuierten in den Zeltlagern haben gewiss kein Recht, zu wählen und, während die Kälber in den abruzzischen Ställen altern und die Milch weggeworfen werden muss, ist die Suppe immer die, die aus Dosenkonserven und Tiefkühlkost zweifelhafter Herkunft und nicht exisistierender Qualität zubereitet wird, was eine Wahrscheinliche Mitursache für die jünste Durchfall-Epidemie ist.

Die aquilanischen Arbeiter sind zur Emigration gezwungen, um Arbeit zu finden, auch weil die lokalen Institutionen de facto einer kommissarischen Verwaltung unterstellt wurden. Durch das Dekret 39 und den mit ihm einhergehenden Verordnungen wird die Bevölkerung jeder Entscheidungsmacht über das eigene Schicksal beraubt, sowohl für das, was die Phase des Notstands betrifft (die Unmöglichkeit der Selbstverwaltung in den Camps des Zivilschutzes und die Blockade der Hilfen für selbstverwaltete Camps durch ebendiesen), als auch für das, was die Phase des Wiederaufbaus betrifft, für die das besagte Dekret einen Dschungel von Unterverträgen an Firmen mit mafiöser und freimaurerischer Beteiligung aus anderen Teilen Italiens verspricht, statt die einheimischen Arbeiter zu bevorzugen.

Wir sind kein Volk von Schnorrern, wir wollen nur das, was uns zusteht: Arbeit und das Land, damit wir wieder anfangen können, zu träumen, und in Würde zu leben, wie wir es immer getan haben. Hier hindern sie uns aber daran, zu arbeiten und sie nehmen sich unser Land, und bald werden sie sich auch alle unsere Trümmer nehmen, unsere Geschichte, unsere Erinnerungen, die nicht nur Beweise unseres Lebens sind, sondern auch ihrer Schuld. Sie nehmen sich unsere gesamte Zeit: die Zeit, die man braucht, um ein Zelt des Zivilschutzes zo öffnen und zu verschließen – jedes Mal, wenn man rein oder raus will (was schatzungsweise 20 Minuten kostet), die Zeit, die man braucht (Stunden, Tage oder gar Monate, ohne konkrete Ergebnisse), um zu versuchen, von der höllischen DICOMAC-Maschine (Direktion für Kommando und Kontrolle, dem nationalen Koordinierungsorgan der Zivilschutz-Strukturen im betroffenen Gebiet) und von dem, was von den Gemeindeschaltern übrig geblieben ist, Informationen oder Unterlagen zu bekommen, die Zeit, die man braucht, um bei ständig belegter Leitung, eine Servicenummer anzurufen, um einen Bus zu kriegen (manchmal Stunden oder Tage), um sich bewegen zu können, die Zeit, die an die Küste evakuierte Menschen brauchen, um auf einen Bus zu warten, der niemals kommen wird. L’Aquila ist eine mittlerweile durch Bürokratie und Militarisierung belagerte Stadt, die wegen dem G8 aufs äußerste abgeschottet ist und den Bedürfnissen der Aquilaner hermetische Verschlossenheit entgegen bringt. Ohne Nachrichten und Informationen sind die Evakuierten zu zermürbenden Warteschlangen gezwungen, nur um ihren Ausweis beim diensthabenden Feldwebel zu hinterlassen, bis sie verstimt und erschöpft rauskommen, um dann bei einer anderen Kommandantur oder in einem anderen Büro erneut Schlange zu stehen.

Es ist heiß, viel zu heiß, in den Zelten und an den Kontrolltellen und vor den Mensen, den Duschen, den Zelten mit den Hilfsgütern. Die nach den Bedürfnissen des Notstandsprofits und nicht nach denen der Wiederherstellung des sozialen Gefüges getaktete Zeit, die Zwangskohabitation, der Verlust jeden Quentchens kollektiver Initimität und Identität an von der Unordnung, vom Zivilschutz und von durch diesen akkreditierten Organisationen kontrollieren Orten und Zeiten, die notgedrungene Untätigkeit, zu der die Evakuierten gezwungen sind, beginnen in Schlägerein, in Gewalthandlungen gegen Frauen und in Kriegen der Armen Gestalt anzunehmen. Und während die Carabinieri und die Medien alles bagatellisieren, um zu verhindern, dass sich diese Wut gegen sie selbst richtet, bittet General Bertolaso den Erzbischof und die Geistlichen um Hilfe: “die Leute in den Zeltlagern fangen an zu rumoren, es ist auch an den Priestern, schlichtende Botschaften auf den Weg zu bringen, um Volksrevolten zu verhindern”. In einer derart “überhitzten Situation” könnte der Aufruf an die Pfarrer natürlich nicht ausreichen, so verdichtet sich die regierungsgesteuerte Kontrolle in den Zeltlagern über die Militarisierung der Camps als solche hinaus, auch durch die Hierarchisierung der dort untergebrachten Personen kapillar im autoritären Modus. Die einzigen in den Zeltstädten erlaubten und unterstützten Versammlungen der Bevölkerung sind die, bei denen die freie Wahl der zivilen Verantwortlichen für die Sicherheit, also der Kapos, durchgeführt werden, sofern sie nicht, wie auf der Piazza d’ Armi geschehen, direkt vom Campleiter des Zivilschutzes einberufen werden. Ein Kapo für jede Ethnie, um jede Gemeinschaft besser zu kontrollieren, der gegen Vorzugsbedingungen in der Zelstatdt selbst praktisch vom Campleiter ausgesucht wird. Von wegen Rechtsstaat und Demokratie! Die Camps sind abgeriegelt: es ist verboten, Flügblätter und Fotoapparate einzuführen, es ist verboten, Information zu importieren und solche zu exportieren. Dabei gibt es auf der Piazza D’ Armi einen ständigen Posten der Rai (Staatsfernsehsender, d.Ü.) der nichts, von dem, was dort geschieht, überträgt, mit Ausnahme der Rampenlichtgänge der politisch-institutionellen Geier. Jenseits von jenen Toren und Zäunen wachen emsige Funktionäre der Digos und der Polizia in Zivil, damit die Leute unwissend bleiben, sie wachen, damit nicht ein Fünkchen Freiheit und Partizipation durch die Maschen jener Zäune dringt.

Wir aber, wir müssen widerstehen, wir haben das Recht und die Pflicht, zu widerstehen, uns an unserer Gegenwart zu beteiligen und Protagonisten unserer Zukunft zu sein. Wollen sie den G8 in L’Aquila abhalten? Wir haben das Recht und die Pflicht, ihnen das Fest zu vermiesen, bevor sie uns um die Ecke bringen. Andererseits: wenn im Juli noch Trümmer herumliegen werden, wird es an Steinen nicht fehlen!

Nein den Lager-Camps!

Nein den Hotelghettos!

Nein dem G8!

Source: http://abruzzo.indymedia.org/article/6518?print_page=true