Home » L Aquila 2009  

 Recent

Watch also...



print
2009-12-24

Experimente für den weiteren Ausbau der sozialen Kontrolle: Beispiel L‘Aquila, Italien

Wie schon so oft gesagt, möchten wir aus der Entfesselt nicht eine über Knäste spezialisierte Zeitung machen, sondern wir wünschen uns viel mehr das hier verschiedene Beiträge ihren Platz finden, die auch andere Themen aus einer anarchistischen Perspektive aufgreifen. Etwa wie die Texte aus Italien, die kurz vor dem G8 veröffentlicht wurden und die Situation um L‘Aquila (eine Stadt mitten in Italien, wo vor einigen Monaten ein starkes Erdbeben war) beleuchteten. Vor allem warnen sie vor der Entwicklungen der sozialen Kontrolle und den Experimenten dort, eine ganze Bevölkerung zu isolieren und zu kontrollieren unter einer Situation des Ausnahmezustandes, welche auch als die Zukunft der Aufstandsbekämpfung und ähnliche Maßnahme für westlichen Ländern vorgesehen ist.
Dazu noch, hat in L‘Aquila der G8 stattgefunden, unterdessen, auch weil “die Chaoten sich nicht trauen werden, eine schon verwüstete Stadt in Asche zu legen”, so Berlusconi, der manchmal nicht so dumm ist, wie viele ihn beschreiben, denn er hat dabei eine gute Lösung gefunden um nicht wieder einen Genua-Effekt zu haben (denn auch aufgrund dessen gab es sehr wenige militante Aktionen gegen das Treffen – die Situation ist aber zu kompliziert um hier beschrieben zu werden…). Dementsprechend ist dort auch eine Menge des Geldes, dass eigentlich in den Wiederaufbau der Stadt fließen sollte zum Ausbau eines größeren Sichereitsapparates verwendet worden. Als erstes veröffentlichen wir hier einen Text der von anarchistischen GenossInnen aus Lecce geschrieben wurde und als zweites ein direktes Zeugnis eines Genossen vor Ort. Weil solche Szenarien bald Alltag werden können.

ABC Berlin

mani aquila 10 lug

L‘Aquila, Palästina

Ein nächtlicher Aufschrei änderte das Leben einer gemütlichen Stadt des Westens; dreihundert Tote, die Häuser, die Geschäfte, die Büros, das Haus der Studenten, Teile des Krankenhauses, viele Monumente und vieles mehr wurden durch das Erdbeben zerstört. Dutzende Menschen haben alles verloren. Es werden Lager und Zelte vom Staat gebaut, um die Evakuierten unterzubringen. Die Menschen haben Angst, auch weil sich neue Erschütterungen bis heute wiederholen könnten. Und deshalb entscheidet jemand, dass diese Menschen und diese Lager ein Prüfstand sein könnten, um eine militärische Kontrolle über eine gesamte Bevölkerung zu testen und zu experimentieren, ohne dass draußen die anderen etwas davon erfahren würden; ein Natodokument über die Metropolen wünscht für das Jahr 2020 einen solchen militärischen Nutzen.
Während Zeitungen und Fernsehen eine Szenario von Tod und Zerstörung darstellen, fängt nach der Beerdigung die Stunde der Missinformation und der Propaganda an. Tausende von Militäreinheiten jeglicher Art kommen nach L‘Aquila. Innerhalb der Lager werden echte Check-Points aufgebaut – um rein und raus zu kommen, Durchsuchungen, die Unmöglichkeit, Besuch von FreundInnen zu bekommen oder Tiere bei sich zu haben. Mensch darf nichts selbstorganisieren, alles wird vom Katastrophenschutz organisiert, der auch entscheidet was mensch essen darf und was nicht. Kein Internetzugang, keine Flyer, überhaupt keine selbstorganisierte Küche, gar keine Orte für Auseinandersetzung und Diskussion.
Dafür nächtliche Kontrollen während mensch schläft, draußen duschen, ungeeignete Toiletten: für die Menschen, die schon unter vielen Einschränkungen leiden, zu den alten kommen neue, alles wird noch komplizierter. Es sieht aus wie ein Kriegstheater, es scheint wie in Gaza zu sein, und wahrscheinlich ist es auch nicht so unterschiedlich. Am Anfang war das Militär auf den Straßen, nun herrscht die totale Militarisierung von L‘Aquila, während ein Gesetz über die Sicherheit verabschiedet wird, dass Tausende von ausländischen Menschen durch ihre Hoffnungslosigkeit zu Verbrechern macht, dass sie als Menschen vernichtet und die Verachtung und den Rassismus derjenigen, die bloß daran denken, wie sie weiter ausbeuten, legitimieren wird. Die italienische Regierung wird zur Avantgarde für die Verwirklichung des Krieges überall, nicht nur in weitentfernten Ländern.
Die Krise hat sowohl die Armut als auch das Prekarität in den reicheren Ländern erhöht, aber mit ihr erhöhte sich auch die Unzufriedenheit und das Nicht-Einverständnis denjenigen gegenüber, die an der Macht sind. Deshalb wurden hier Instrumente erfunden, um dies zu verhindern: Kontrolle und Repression. Der Labor L‘Aquila steht als leuchtendes Beispiel dafür. Neben dem Militär spielt der Katastrophenschutz eine große Rolle, der schon vor einigen Jahren als Protagonist der Anti-Terrorübungen die großen Städte für den Krieg zuhause vorbereitete (der Kreis schließt sich). Dieser hat nun Vollmacht den Ausnahmezustand zu verwalten, aber auch für den Wiederaufbau, der viele reizt und die üblichen Verdächtigen reicher machen wird. Die Abruzzo stellt ein großes Stück Kuchen dar, der aufgeteilt werden muss. Deshalb stellt sich der Katastrophenschutz als der vertraute Wachhund dar, um alles zu verwalten, genauso wie es mit dem Müll in Campania passiert ist. Müll und Opfer des Erdbebens werden vom Staat auf die gleiche Art und Weise behandelt.
Auch die Organisierung des G8 bleibt dem Katastrophenschutz in erster Linie überlassen, um unter anderem die Besuche der Mächtigen auf der Erde unter den Ruinen zu ermöglichen. Genauso, der G8. Während die Leute in Zeltstädten wohnen, isoliert und kontrolliert, findet wenige Schritte entfernt der Gipfel der acht Industrieländer der Welt statt, die zwischen einem Aperitif und einem Essen darüber diskutieren, wie viel Rest ein jeder abgeben muss, um zu vermeiden, dass die Welt zum kollabieren kommt, oder wann es zumindest spätestens passieren wird.
Der Poet sagte, wenn die Wahrheit unter der Erde eingeschlossen wird, wird sie sich darunter ansammeln und zu einer großen Explosionskraft heranwachsen, so dass an dem Tag, an dem sie explodieren wird, alles mit sich bringt.
Die Wahrheit fängt an Kraft zu sammeln, und zwar die der Ausgebeuteten, der Rebellen und derjenigen die müde sind, sich zu unterwerfen, und sich entfesseln von den Ausbeutern eines jeden Landes.

Auf L‘Aquila wohnt Mensch unter Kriegszuständen, mörderische Herren gebt uns die Erde zurück! … Wir können immer noch nicht verstehen wieso und bis zu welchem Punkt sie gehen wollen. Sicherlich ist es sowohl eine Kriegsprüfung als auch eine totale Herrschaft über den Willen der Bevölkerung, vielleicht ist es auch der Versuch den Plan der “Wiederbelebung” von Gelli¹ zu vollführen. Geheimdienste, Bullen jeglicher Art und politische Polizei haben sich hier um L‘Aquila konzentriert, zusammen mit der Massonerie, der Mafia, der Camorra, di ‚ndrangheta, sacra corona unita², Polizeistaat und G8. Außer der Feuerwehr, für 60.000 AnwohnerInnen, wovon 30.000 evakuierte an der Küste sind, gibt es mehr als 70.000 Menschen in Uniform auf L‘Aquila, vom Militär bis hin zur Carabinieri, von der Polizei bis hin zum Gom³, von der Finanzwache (auch mit Antiriot Einheiten) bis hin zu FörsterInnen. Und dann gibt es noch die Polizei, die auch die Aufgaben des Veterinäramtes übernimmt, die mit ihrer schön gestärkten Uniform die Ausweise derjeniger kontrollieren, die rein und raus gehen und Rundgänge macht, anstatt sich in den Zeltlagern nützlich zu machen.
Es gibt den Katastrophenschutz vom Bertolaso – Berlusconi, der die Solidarität filtriert, die Installierung vom Internetzugangspunkten verhindert (“naja”, sagen sie, “wir haben sie schon und das nutzt den Evakuierten nicht”) und falls du sie fragst, die Dixie-klos am Ende der Lager zu installieren, da wo es weniger Kontrollen gibt, oder nach Klopapier, dann zaudern sie oder fragen nach der Feuerwehr. Und dann gibt es diese ganze Reihe an bezahlten Freiwilligen, die vom Katastrophenschutz autorisiert sind: von den Misericordia bis hin zu den Gottesfürchtigen von diesem oder jenem Heiligen im Paradies geschickt, vom Roten Kreuz bis hin zu den Weißen, Grünen oder Blauen.
Und dann gibt es auch noch die Digos (politische Polizei) und die Zivis, die auf dem ganzen Areal verteilt sind. In jedem Lager gibt es mindestens 200 Bullen für 160 AnwohnerInnen, ohne die Zivis dazu zu zählen. Solche Zeltanlagen sind einfach Lager. Mensch darf keine Tier bei sich haben (außer ein paar vom Fernsehen gut beworbenen Ausnahmen), Mensch darf nicht Verwandte oder FreundInnen auf anderen Zeltanlagen besuchen ohne identifiziert zu werden, Mensch darf nicht kochen, sich waschen, sich selbstorganisieren. Wenn die LKWs voll mit Wahren ankommen, prügeln sich die Leute untereinander, um ein paar Socken oder Unterhosen sicherzu bekommen. Sie behandeln uns wie Gehirnlose.
Sie haben uns besetzt, kolonisiert, desinformiert. Es kommen keine Zeitungen hier an. Um einkaufen gehen zu können muss mensch am frühen Morgen nach der Identifizierung raus gehen und versuchen den nächstgelegenen Zeitungsladen, der noch steht, zu erreichen (wir haben die Brandzeichen der Evakuierten: eine Karte, die Mensch immer zeigen muss, selbst wenn Mensch in der Reihe fürs Essen oder fürs Klo oder zum Duschen ansteht, sogar um alle 15 Tage zum Friseur gehen zu können). Für die Frauen, vor allem für die Älteren, ist es eine Tragödie, um sich duschen zu können oder ein Bad zu nehmen, muss Mensch zum Meer oder nach Rom fahren und zurückkommen bevor die Türen zugehen, ansonsten gibt es kalte Duschen unter guter Beobachtung (vor den Augen aller Bullen und Männer im allgemeinen), denn auf vielen Zeltanlagen gibt es keine Container für die Duschen, sondern nur Duschen unter freiem Himmel. Die älteren Frauen, die Behinderten, die Inkontinenten pissen in die Zelte, weil es keine Dixie-klos am Ende der Zeltanlage gibt, wo weniger Überwachung ist. Die Klos stehen am Eingang der Zeltanlage, dort wo der Katastrophenschutz und alle anderen Bullen mit ihren Lichtern und Videokameras stehen. Außerdem haben die Klos keine geeigneten Zugänge für behinderten Menschen.
Viele der Zelte des Katastrophenschutzes sind unzumutbar (entweder kommt Wasser rein und die Evakuierten müssen Gruben und Kanäle für das Wasser buddeln und ausheben, welche am nächsten Morgen wieder entleert werden müssen) und sehr schwierig zu betreten (denn anstatt des Reißverschlusses haben sie Knöpfe und Schnüre zum zumachen) und ein junger Mensch in guter physischen Verfassung braucht ungefähr zehn Minuten, um sie auf zu kriegen oder zu zuschließen. Nachts versuchst du zu schlafen und das ganze Desaster zu vergessen und nicht über die Zukunft nachzudenken, denn es gibt gar keine, wir hatten und haben noch keine Arbeit, wir hatten und haben kein Einkommen und nun haben wir auch kein zu Hause mehr, eine Nest wo wir unter kommen können. Und während du versuchst, innerhalb dieses ganzen Horrors einzuschlafen, kommen die Menschen in Uniform in die Zelte rein und blenden dich mit ihren Taschenlampen, um festzustellen wer da ist und wer nicht, was er/sie tut und ob sie/er ein Computer an hat oder den Fernseher (denn es ist verboten, sie in den Zelten zu haben). Es herrscht Ausgangsperre.
Sie verhaften jemanden aus Rumänien, weil er einige Kupferrohrstückchen aus den zerfallenen Häusern genommen hatte, während die wahren Schakale bezahlt werden, um uns innerhalb dieser Lager eingesperrt zu halten oder um uns aufgrund der Hoffnungslosigkeit wegzuschicken. Und dann wird alles mit den G8 noch furchtbarer. Keiner wird einen Cent aus diesem Erdbebenverdienen, niemand, außer die Mächtigen.

¹ Licio Gelli: Mitgründer der bekannte Freimaurerloge P2, die das Leben Italiens sehr beeinflusst hat (selbstverständlich auf einer negativen Art und Weise…).
² es sind die verschiedenen italienischen Figuren des organisierten Verbrechens, die jeweils in verschiedenen Regionen “aktiv” sind: Mafia in Sizilien, Camorra im Campanien, sacra corona unita im Puglia und ‚ndrangheta im Calabria, wobei sie bloß ihren Ursprung dort haben, aber auch im restlichen Teil des Landes präsent sind.
³ gom: “mobile operative Gruppen”, sie sind die Anti-riot-Einheit, die für die Ruhe im Knast verantwortlich ist und sich schon in vielen Gewaltskandalen gegenüber Gefangenen kritische Worte verdient haben. Sie wurden übrigens von dem postkommunistischen Minister Diliberto geschaffen.

Source: http://archiv-1.abc-berlin.net/abcfiles/entfesselt%20september-oktober%2009.pdf