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2002-01-31

GRUSSADRESSE DER MUTTER V. CARLO GIULIANI AN DIE DEMONSTRATION DER IMMIGRANTEN IN ROM - 20.01.2002

Vorige Nacht ging ein Teil der Gedenkstätte für meinen Sohn an der Piazza Alimonda in den Flammen auf. Es verbrannte auch eine Fotografie meines Sohnes. Doch davon haben wir noch viele Abzüge. Es verbrannten auch etliche Briefe, Gedichte und Sprüche, die meinem Sohn gewidmet waren. Doch ich denke, dass ich sie schon alle abgeschrieben habe. Es verbrannten die Trikots, die Schärpen und Fahnen der Fußballvereine, eine kleine Grippe, Heiligenfiguren, ein Kreuz; es verbrannte Spielzeug, das Kinder dort abgelegt hatten, ein Buch, eine CD, eine Videokassette, eine Feuerwehrmütze, ein sehr schön gemachtes Spruchband...es war aber nicht möglich alles zu verbrennen. Und schon am darauf folgenden Morgen, als wir die kleine Mauer und die Blumen gereinigt hatten, kamen sie schon, um neue Briefe anzubringen, um ein Trikot hinzulegen, um ein Gedicht beizufügen - um ein kleines Geschenk und die eigene solidarische Anwesenheit darzubringen.

Warum? Sechs Monate sind vergangen, große tragische Ereignisse haben sich auf dieser achtlosen Welt, die gewöhnt ist zu konsumieren und schnell zu vergessen, ereignet. Die Erinnerungen aber über die Ereignisse vom 20. Juli verschwinden nicht, die Gefühle werden nicht geringer. Warum? Eigentlich handelt es sich doch nur um einen Jungen, um einen Sohn wie viele andere auch, der sich mit vielen anderen Jungen und Älteren der Ungerechtigkeit ausgeliefert sah. Vielleicht steht Carlo stellvertretend für all die, die in den Julitagen Ungerechtigkeiten erleiden mussten: Sie wurden angegriffen, geschlagen, gedemütigt, weil sie ihre eigenen Ideen ausdrücken wollten. Vielleicht gibt Lello Voce, Schriftsteller, Dichter und Freund auch eine Erklärung dafür, wenn er schreibt: "...Er ist ein feiner, etwas kleiner unbewaffneter aber empörter Junge und er ist genau so wie die Kleinen, Unbewaffneten, Empörten sind, für deren Rechte er demonstrierte." (L'Unità, 14. Januar) Vielleicht können wir es auch durch ein anonymes Gedicht begreifen, von einem der vielen, die am Gitter an der Piazza Alimonda angebracht wurden:

Als ich klein war, dachte ich,
dass die Menschen sterben würden,
wenn das Herz nicht mehr schlägt.
Später ist mir aufgefallen,
dass es welche gibt,
die ganz gut mit erloschenem Herzen leben -
Und das sind keine Ausnahmen.
Darauf entdeckte ich,
dass es welche gibt,
die weiterleben
auch wenn ihnen jemand den Schlag
des funktionierenden Herzens anhielt
- das entdeckte ich.

Vielleicht leben sie.
weil sie weiterleben müssen
aus zu viel Liebe
wie du Carletto.

Was ich sagen will, mein Sohn der immer so schlau war, aus jeglicher Situation herauszukommen, weil er so tat als ginge ihn das alles nichts an - dann, wenn einer ein Foto schoss - dieser "Ragazzo" ist zu einem Symbol geworden. Wir müssen hinzufügen, wir wollen aus ihm keinen Helden machen. Vielleicht deshalb, weil das Leiden ganzer Völker, der Heere ausgebeuteter Kinder, der Notleidenden, der Ermordeten sehr schwer mit unserem menschlichen Verstand zu verstehen ist und zu groß ist für unser Herz. Vielleicht, weil Carlo zuerst zum Tode verurteilt, dann zerstückelt, dann für schuldig befunden und schließlich beleidigt wurde, ohne dass er je einen Prozess erhielt. Vielleicht sind wir heute aus diesen Gründen auch hier, um seiner zu gedenken.

Die Mamma von Carlo

[geschickt und übersetzt von Günter Melle, bei L'Unità]