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2003-08-20

OFFENES SCHREIBEN AN DEN STAATSRAT DER REPUBLIK UND DES KANTONS GENF.

Sehr geehrter Herr Präsident des Staatsrats, sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder des Staatsrats,

Der Genfer juristische G8-Bereitschaftsdienst und seine zahlreichen Beobachtergruppen (Legal Teams) sind wegen der schwerwiegenden Ereignisse sehr besorgt, die während des G8-Gipfeltreffens stattgefunden haben, insbesondere vom Sonntag dem 1. bis Dienstag den 3. Juni 2003. Wir bitten den Staatsrat um volle Klärung sowohl der gewalttätigen Handlungen der Polizei als der während dieses Zeitraums von den Ordnungskräften angewandten Strategie.

Diese Ereignisse sind sehr schwerwiegend und es handelt sich darum, alle deren Folgen abzuwägen. Die vor fünf Jahren infolge der Ereignisse von Mai 1998 erfolgte parlamentarische Untersuchung hatte schwerwiegende Funktionsstörungen und Verletzungen der Personenrechte vonseiten der Polizei enthüllt. Die Mitglieder des Staatsrats und der Polizeichef, Alain Cudré-Mauroux, hatten davon Kenntnis gehabt und uns versichert, dass sie daraus Folgen gezogen haben. Leider hat das nicht neue schwere Verletzungen der Menschenrechte verhindert. Unsere Arbeit der Beobachtung und des Sammelns von Zeugenaussagen hat erlaubt, objektive und detaillierte Informationen über diese Vorkommnisse zu erlangen, von denen wir fordern, dass sie aufgeklärt werden:

Illegal

Polizeiliche Gewalttätigkeiten
Wir haben namentliche Zeugenaussagen von mehr als 50 Personen aufgenommen, die polizeiliche Gewalttätigkeiten erlitten haben, meist bar jeglichen Umstands, der dies rechtfertigen konnte (Selbstverteidigung). Sie wurden bei ihrer Festnahme geschlagen oder auf der Strasse verprügelt, dann einfach stehen oder liegen gelassen.

Am Dienstagabend, als jegliche Versammlung auf Anordnung des Generalstaatsanwalts verboten war, haben zahlreiche Polizisten so gehandelt, als wären sie ermächtigt worden, systematisch Gewalt gegen Demonstranten und Schaulustige anzuwenden. Ab 18 Uhr schlugen manche Polizisten, ohne Uniform und vermummt, grund- und wahllos auf die Passanten ein, wobei sie manchmal metallene Schlagstöcke benutzten. Zahlreiche Personen wurden geknüppelt und dann festgenommen. Zwischen 19 Uhr abends und 3 Uhr morgens empfing der juristische G8-Bereitschaftsdienst ca. 25 verwundete und von diesen Vorkommnissen traumatisierte Personen. Diese widerwärtigen Handlungen, die einen schwerwiegenden Präzedenzfall bilden, stellen einen Angriff auf die physische und psychische Unversehrtheit der Demonstranten, aber auch der Passanten, Anwohner und Schaulustigen dar, die von ihrer Arbeit kamen oder ihren üblichen Beschäftigungen nachgingen. Die Polizei hat durch unverständliche Manöver, da es ja keinen Aufruhr gab, oft Schaulustige angelockt, um dann auf sie los zu stürmen, manchmal ohne förmliche Aufforderung.
Die Anzahl dieser Fälle ist beunruhigend, weil er eine systematische Praxis zeigt, umso mehr als wir gewiss nur Kenntnis eines ganz kleinen Teils der Fälle haben, da diese Personen traumatisiert waren und nicht alle Kenntnis unseres Vorhandenseins hatten. Heute haben zahlreiche Personen beschlossen, gegen die Polizei Anzeige zu erstatten.

Nicht-Identifizierung der Polizisten
Seit Sonntagabend hat sich die Praxis der Polizei verallgemeinert, Kollegen ohne Uniformen, maskiert oder mit Hasskappe, einzusetzen, die nur mit einer orangefarbenen Armbinde identifizierbar waren (und manchmal, laut Zeugen, überhaupt nicht identifizierbar) und Metall-Teleskopstöcke trugen. Diese Praxis macht die Identifizierung der Polizisten durch die Opfer ihrer Gewalttätigkeiten sozusagen unmöglich und schafft de facto eine Situation der Straffreiheit. Am Sonntagabend nahm eine Gruppe von ca. 30 solcherart ausstaffierten Polizisten das Kulturzentrum der Usine mit unerhörter Gewalt ein. Mehrere Personen, die den Gebäudeeingang friedlich versperrten, erhielten Schläge durch Metallknüppel auf Kopf, Gesicht und andere Körperteile. Die Polizisten haben sich im voraus nicht ausgewiesen (mehrere anwesende Personen dachten, es handele sich um Mitglieder des "Black Block"), und haben die Usine ohne Vorzeigen ihres Mandats besetzt.
Der von unabhängigen Indymedia-Journalisten gedrehte Film, für welche die Usine das logistische Zentrum war, zeigen klar die Fakten (http://italy.indymedia.org/). Drei Personen wurden verwundet. Unsere Beobachter konnten das Gebäude erst 15 Minuten später betreten, und die vor Ort anwesenden Personen berichteten uns über die Beschimpfungen und Rempeleien, denen sie vor unserer Ankunft ausgesetzt waren.

Behinderung der Arbeit der Legal Teams
Seit Sonntag, den 1. Juni, wurde die Beobachtungsarbeit der Legal Teams durch die Ordnungskräfte behindert. Zunächst waren es deutsche Polizisten, die uns gegenüber gewalttätig wurden. Zwei unserer Beobachter, die einwandfrei durch ihren Rückenumhang identifizierbar waren, wurden am Sonntag angegriffen, obwohl sie sich abseits des Aufruhrs befanden. Einer von ihnen erlitt eine Fraktur des Ellenbogens durch einen Schlagstock, während er sich den Kopf schützte und "Legal Team, Legal Team" schrie. Sein Umhang wurde ihm dann abgerissen. Am Montagabend erlitten unsere Rechtsbeobachter verbale und gestenreiche Drohungen (über ihren Köpfen geschwenkter Schlagstock, Bedrohung durch Gummigeschossgewehr) vonseiten der Vertreter der Schweizer und der deutschen Polizei. Ab Dienstag, den 3. Juni, hat uns die Genfer Polizei systematisch daran gehindert, unsere Arbeit zu machen. Um 18,30 Uhr wurden einem unserer Beobachter Handschellen angelegt und ihm befohlen, nach Hause zu gehen, andernfalls er verhaftet werden würde. Einem anderen landete ein Schlagstock auf dem Schenkel, als er auf der Strasse postiert war. Später nahmen Polizisten Identitätskontrollen unserer Teams vor und teilten ihnen mit, das sie "kein Legal Team hier" haben wollten, und sie drohten ihnen, auf sie zu schiessen.
Eine junge Anwältin des Legal Teams wurde bei einer dieser Kontrollen von einem Gummigeschoss am Bein getroffen, als sie gerade ihre Papiere vorzuzeigen wollte.
Diese Handlungen verletzen das Vereinbarungsprotokoll, das vom FSL und Ihnen selber unterzeichnet worden war und ausdrücklich die Legal Teams als Beobachter erwähnt. Dieses Protokoll, das vorsah, die Arbeit der Beobachter nicht zu behindern, war bis zum 3. Juni 2003 in Kraft, im Gegensatz zu dem, was von gewisse Polizisten am Dienstagabend behauptet wurde.
Diese diversen Behinderungen der Beobachtungsarbeit der Legal Teams sind ebenfalls im flagranten Widerspruch mit dem, was mündlich mit dem Polizeichef vereinbart worden war, der uns versichert hatte, dass unserer Arbeit respektiert und unsere körperliche Unversehrtheit nicht gefährdet werden würde.

Gebrauch nicht-tödlicher Waffen.
Die Verwendung von Gummigeschossen bei Demonstrationen ist eine beunruhigende Rückkehr zu einer in Genf seit mehr als 20 Jahren verschwundenen Praxis. Diese Waffen können schwere Verletzungen verursachen, vor allem den Verlust eines Auges. Angesichts dieser Risiken war ihr Gebrauch unverhältnismässig bei Fehlen von anderen als Sachschäden.
Eine weitere beunruhigende Praxis: der massive Gebrauch von Schockgranaten und Tränengasbomben, die aus einer Entfernung von wenigen Metern auf Demonstranten und Passanten geworfen wurden.
Diese Waffen sind jedoch vorgesehen, von einer vernünftigen Entfernung aus verwendet zu werden, mit dem Zweck, Unbehagen oder Furcht hervorzurufen. Mehrere Personen wurden auf diese Weise verletzt. Eine davon leidet an Ohrenrauschen (eine manchmal irreversible Verletzung). Eine andere, ein Journalist, ist immer noch im Krankenhaus und in Erwartung eines Muskeltransplantats am Bein. Weitere ähnliche Fälle wurden uns gemeldet.

Einschüchterung der Journalisten
Am Dienstag, den 3. Juni, abends, handelte die Polizei ganz klar so, dass die Anwesenheit von Zeugen verhindert wurde. Die Handlung der Polizei den Medien gegenüber ist diesbezüglich vielsagend: Journalisten wurden beiseite genommen, ihre Filme und Kassetten beschlagnahmt. Sie wurden manchmal verhaftet und geschlagen, dann ausserhalb der Stadt frei gelassen.
Diese Tatsachen, sowie die brutale Durchsuchung des logistischen Indymedia-Zentrums in der Usine, stellen schwere Angriffe auf die Pressefreiheit dar.

Verbot der Demonstrationen
Der Beschluss, jegliche Versammlung zu verbieten, stellt einen Angriff auf die Ausdrucks- und Versammlungsfreiheit dar, sowohl durch die Bundesverfassung als durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierte Grundrechte. Eine Beschränkung der Grundsrechte kann nur unter gewissen strengen Bedingungen erfolgen. Im vorliegenden Falle wurden, wenn das Ziel öffentlichen Interesses an Schutz von Gütern und Personen zugelassen werden kann, die Bedingungen der Subsidiarität und Proportionalität ganz klar nicht respektiert. In der Tat gab es ein weniger drastisches Mittel, um dasselbe Interesse zu schützen: eine strikte Aufsicht über die (friedliche!) Demonstration. Ausserdem respektierte dieses Verbot nicht das Angemessenheitsprinzip: es konnte auf keinerlei Weise das angestrebte Ziel erreichen. Ganz im Gegenteil schuf die massive Präsenz der Ordnungskräfte, die abgestellt worden waren, um dieses Verbot respektieren zu lassen, Ansammlungen von Passanten, die dann von denselben Ordnungskräften gewaltsam auseinander getrieben wurden...

Strukturelle Probleme
Das Fehlen eines kohärenten Oberkommandos hat zweifellos zur Nichtbeachtung der Grundrechte der Demonstranten beigetragen. Fünf verschiedene Kontingente waren im Kanton Genf präsent (Genfer, Zürcher, Freiburger, Tessiner und vor allem deutsche). Wir haben schwere Koordinationsprobleme zwischen diesen verschiedenen Polizeikräften festgestellt. Erstens wurden die von der Genfer Polizei (die das Oberkommando innehatte) gegenüber der Legal Teams eingegangenen Abmachungen von der deutschen Polizei und anderen kantonalen Polizeikräften nicht eingehalten. Ein Genfer Abgeordneter wurde von einem Schweizer Polizisten bedroht, bei Fehlen jeglicher Gewaltsituation. Es wurde vor Ort ebenfalls festgestellt, dass ein hochrangiger Genfer Polizeibeamter seiner Stimme unter den Vertretern anderer kantonaler Polizeikräfte nicht Gehör verschaffen konnte, was ein offenkundiges Fehlen an Kontrolle bei letzteren beweist. Zudem wurden die Aufforderungen der Deutschschweizer und deutschen Polizeikräfte auf dem rechten Ufer oft nur auf Deutsch gemacht, was inakzeptabel ist.

Infolge dieser Ereignisse verlangen wir:
· dass eine unabhängige Untersuchung die Handlungen der Polizei erhellt und die jeweiligen Verantwortlichkeiten der verschiedenen Handelnden abzuschätzen gestattet.
· dass alles gemacht wird, um die Arbeit der Justiz in den Angelegenheiten zu begünstigen, die sich auf die Demonstrationen gegen den G8 beziehen.
· dass gegen Polizisten, die Urheber von Gewalttaten sind, Disziplinar- und Strafsanktionen verhängt werden.
· dass ein Ende gesetzt wird der Verwendung von Masken und Hasskappen durch die Polizei, die ihre Identifizierung verhindern und ihre Straffreiheit begünstigen, wobei jeder Polizist seine Matrikelnummer auf sichtbare Art und Weise tragen muss.
· dass der Gebrauch von Metall-Teleskopstöcken untersagt wird.
· dass die Verwendung anderer kantonaler und ausländischer Polizeikräfte in Zukunft auf den Schutz von spezifischen Orten, wie dem Flughafen, beschränkt wird.

Ihnen im voraus für die Aufmerksamkeit dankend, die Sie diesem Schreiben entgegenbringen, verbleiben wir,
mit vorzüglicher Hochachtung

Der juristische Bereitschaftsdienst Genf


Images:

Illegal
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