2004-07-02 

Manifest der Betroffenen aus der Diaz-Schule

"Das letzte Mal waren wir hier in der Nacht vom 21.auf den 22. Juli 2001. In dieser Nacht sind wir von der Polizei brutal verprügelt, zum Teil fast totgeschlagen worden. Sie kennen die Bilder von uns, wie wir (z.T. schwer) verletzt aus diesem Gebäude herausgetragen wurden. Sie wissen, dass wir anschließend in der Kaserne Bolzaneto weiter misshandelt, bedroht und erniedrigt wurden, dass wir nicht schlafen und nicht essen durften und nicht medizinisch versorgt wurden."
Wir werden das nie vergessen. Doch genauso wenig werden wir vergessen, warum wir damals hierher nach Genua gekommen sind.

So verschieden wir auch sind, so unterschiedlich unsere politischen Positionen auch aussehen, so haben wir doch eines gemeinsam: nämlich dass wir hier in Genua zusammen mit 300.000 anderen Menschen unseren Protest gegen die Politik der G8 auf die Strasse getragen haben.

Wir haben hier gekämpft gegen die alle Lebensbereiche durchdringende kapitalistische Verwertungslogik, gegen eine Aufteilung der Welt in arm und reich, in GewinnerInnen und VerliererInnen, gegen eine rassistische und stetig repressiver werdende Migrationspolitik Wir haben hier gekämpft für eine Welt ohne Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse.

Die Knüppel die wir zu spüren bekommen haben, sollten uns zum Schweigen bringen. Aber: Heute sind wir wieder hier und lassen uns das Wort nicht nehmen. Wir leben noch und der italienische Staat hat es nicht geschafft, mit ihrem abstrusen Konstrukt einer "terroristischen Vereinigung" gegen uns durchzukommen und uns für Jahre ins Gefängnis zu bringen. Deshalb können wir jetzt hier sein und sprechen.

Andere können das nicht. 26 italienische Genossen und Genossinnen stehen zur Zeit vor Gericht und werden mit 8-15 Jahren Gefängnis bedroht–auf der Grundlage einer ähnlich abstrusen Beweislage, wie sie gegen uns vorgebracht wurde. Wir erinnern daran, dass auch wir beschuldigt waren, einer imaginären "Terroristischen Vereinigung Black Block" anzugehören–schwarze Kleidungsstücke schienen als Beweise für die "Mitgliedschaft" in diesem Konstrukt zu genügen.

Nachdem die Konstruiertheit dieser vermeintlichen "terroristischen Vereinigung" offensichtlich war, wurde sie nach Jahren schließlich vom Gericht verworfen, doch gegen die angeklagten 26 Genossen und Genossinnen wird nun von der Staatsanwaltschaft trickreich ein Paragraph zu "Verwüstung und Plünderung" ins Feld geführt, mittels dessen selbst bei dünner Beweislage ähnlich absurd lange Gefängnisstrafen verhängt werden können. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft angekündigt, dass noch gegen weitere 50 Aktivistinnen und Aktivisten Anklage erhoben wird. Wir vermuten, dass sich unter diesen 50 z.B. die Angehörigen der Volxtheaterkarawane befinden, denen ihre Theaterrequisiten als Waffen ausgelegt werden und die aufgrund dieser sogenannten "Beweise" schon 3 Wochen inhaftiert waren.

Diese Strategie ist mehr als durchschaubar und sie darf nicht aufgehen. Wiedereinmal werden Sündenböcke gesucht, um das mehr als brutales vorgehen der Polizei vor fast drei Jahre und die Welle der Repression in der Zeit danach zu rechtfertigen.

Den 26, den 50 und allen anderen, die von der Repression betroffen sind, gilt unsere Solidarität und Unterstützung. Wir lassen uns nicht spalten in "gute" und "böse" Demonstrierende.

Die Proteste beim G8-Gipfel waren vielfältig, auch widersprüchlich, sie waren kraftvoll und entschlossen. Hunderttausende Menschen aus verschiedenen Ländern, aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und politischen Spektren kamen hier zusammen und haben gezeigt, dass der globale Kapitalismus angreifbar ist.

Auf die Einteilung in "kriminell" und "nicht-kriminell" werden wir uns nicht einlassen. Wahllos wurden Tausende mit Gas attackiert und Hunderte während der Demonstrationen und in den Kasernen misshandelt und erniedrigt–einige wenige wurden nun vor Gericht gestellt. Es hätten auch andere sein können. Und es hätten auch wir sein können–wären nicht die blutigen Bilder von uns um die Welt gegangen, wäre nicht die Wahrheit über die gefälschten "Beweise", über als Waffen titulierte Campingutensilien, über den der Phantasie eines Polizisten entsprungenen Messerstich und über die von der Polizei eigenhändig in die Schule getragenen Molotowcocktails ans Licht gekommen.

Und so können wir heute nach Genua zurückkehren und dem Auftakt des Prozesses beiwohnen, der gegen einige eröffnet wurde, die für den Überfall auf uns verantwortlich sind. Selbst bei der Brutalität der Ereignisse, wie wir sie hier in der Diaz-Schule erlebt haben, ist es keine Selbstverständlichkeit, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Dass es zu diesem Prozess kommen konnte ist der medialen Aufmerksamkeit, vor allem aber der hartnäckigen und unermüdlichen Arbeit unserer Anwältinnen und Anwälte gezollt. Angeklagt sind nur wenige identifizierbare Polizisten und sogenanntes medizinisches Personal. Teilhabende und verantwortliche PolitikerInnen, diejenigen, die Weisungen gegeben und die Ausführenden gedeckt haben.

Auf den Strassen, in den Kasernen, in den Gefängnissen und in den Krankenhäusern von Genua haben wir während und nach dem Gipfel offenes faschistisches Auftreten von Polizisten und Polizistinnen und–daran gibt es nichts zu beschönigen–Folter erlebt. Die Erklärung des Innenminister Scajola lautete "wir haben gute Arbeit geleistet". Dieser Ausspruch traf auf Zustimmung im In- und Ausland und hierbei handelte es sich nicht etwa um voreilige Äußerungen. Das zeigt auch der Blick auf die aktuellen Geschehnisse: Berlusconis Auftritt als Nebenkläger gegen die 26 angeklagten AktivistInnen von Genua und auch die Tatsache, dass ParlamentarierInnen der Alleanza Nazionale die angeklagten Polizisten verteidigen, machen eindeutig klar, dass an der Linie, die von den knüppelnden Polizisten verfolgt wurde, von staatlicher Seite unbeirrt festgehalten wird.

Wir sind inzwischen nicht mehr Beschuldigte, denn die Verfahren gegen uns sind eingestellt. Wir sind inzwischen KlägerInnen und Kläger im Prozess gegen die verantwortlichen Polizisten und gegen die sogenannte ÄrtztInnen, die uns Hilfe verweigert haben. Und dennoch hat die Repression gegen uns kein Ende.

Zu den seelischen und körperlichen Verletzungen, die uns geblieben sind, kommt hinzu, dass wir seit dieser Nacht in der Diaz-Schule in länderübergreifenden StraftäterInnen-Dateien geführt werden. Aufgrund dieses Eintrags werden wir in unserer Bewegungs- und Meinungsfreiheit eingeschränkt. So wurde einem von uns beispielsweise ein russisches Touristenvisum verweigert. Andere von uns konnten nicht an politischen Demonstrationen teilnehmen, weil sie bei Personenkontrollen als vermeintliche potentielle StraftäterInnen vorbeugend in Gewahrsam genommen wurden. Repression hat viele Gesichter. Sie betrifft überall auf der Welt Menschen, die den globalisierten Kapitalismus nicht als das Ende der Geschichte akzeptieren wollen. Misshandlungen und Psychoterror, Reiseverbote und vorbeugende Gewahrsamnahmen, Gefängnisstrafen und in letzter Instanz Schüsse wie auf Carlo Guiliani sind verschiedene Mittel, die Kämpfe für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung zu zerschlagen.

Seitdem beim EU-Gipfel in Göteborg scharf geschossen wurde wissen wir, dass dabei der Tod von politischen Aktivistinnen und Aktivisten einkalkuliert und im nachhinein gar staatlich legitimiert wird: Carlos Mörder wurde freigesprochen. So ist ein Aktivist, dem bei einer Blockadeaktion beim G8-Gipfel in Evian sein Sicherungsseil durchtrennt wurde, angeklagt, wohingegen der Polizist, der den Lebensgefährlichen Absturz aus der Höhe von 20m verursachte, keine Konsequenzen zu erwarten hat.

Viele Menschen haben uns unterstützt und dadurch ermöglicht, dass die Geschehnisse in der Diaz-Schule öffentlich wurden und nun vor Gericht verhandelt werden. Hierfür wollen wir uns bedanken; wir wollen die Unterstützung und Aufmerksamkeit, die wir bekamen, teilen mit den 26 angeklagten AktivistInnen von Genua, mit den angeklagten Kletterern von Genf und mit all den Aktivistinnen und Aktivisten, die sie noch brauchen oder brauchen werden.

Wir sind heute hier nicht als Opfer (wie vor 3 Jahren) sondern als Ankläger. Und wir sind hier in kämpferischer Solidarität mit denen, deren Widerstand kriminalisiert wird.

Viele Knochen wurden in der Diaz-Schule gebrochen, aber nicht wir als politisch denkende und handelnde Menschen. Trotz aller Repression während des G8-Gipfels in Genua ist es nicht gelungen, in unseren Köpfen die Bilder dieser bedeutenden und vielfältigen Demonstration für eine solidarische Welt zu löschen. Das gibt uns die Kraft, heute wieder hierher zurückzukommen, Kraft, die wir den Genossinnen und Genossen vor Gericht, in den Gefängnissen und in den unzähligen lokalen sozialen Kämpfen überall auf der Welt von ganzem Herzen wünschen.

Juni 2004