2003-07-20 

Verfahren im Zusammenhang mit Protesten in Göteborg

Redebeitrag Demo 20. Juli Berlin

Am 11. Juli stürmten 4 Polizisten frühmorgens eine Wohnung im Odenwald. Die darauf folgende Hausdurchsuchung führten sie äußerst akribisch durch, auch der Computer wurde durchsucht. Schließlich beschlagnahmten sie Fotos von Demonstrationen sowie sämtliche Adresslisten. Der Durchsuchungsbefehl führt zur Begründung aus: "Der Beschuldigte ist verdächtigt, sich anlässlich des EU -Gipfels am 14.-15.06.2001 in Göteborg an gewalttätigen Ausschreitungen, die zu erheblichen Personen- und Sachschäden geführt haben, beteiligt zu haben." Angeblich konnte der Beschuldigte "durch Auswertung von Bilddokumenten (...) als einer der an den Ausschreitungen Beteiligten identifiziert werden."

2001

Besonders bemerkenswert wird dieser Fall dadurch, dass der Betroffene definitiv nicht in Göteborg anwesend war, sondern offenbar v.a. deshalb verdächtigt wird, weil gerade noch ein anderes Verfahren in Zusammenhang mit politischer Aktivitäten gegen ihn geführt wird.
Dies ist der vorerst letzte Fall der zweiten Verfahrenswelle im Zusammenhang mit den Protesten in Göteborg, die erst anderthalb Jahre nach dem EU-Gipfel begann. Grundlage dieser neuen Verfahren ist die Auswertung von Bildmaterial vornehmlich durch die schwedische Polizei, wobei aber auch die Verfolgungsbehörden anderer Staaten ermitteln. Dabei zeigt sich zum einen die langfristige Vorbereitung der Repression, die sich gerade im Vergleich zu Genua als wesentlich geplanter und mehr auf juristische Verfolgung ausgelegt darstellt. Zum anderen zeigt sich an Menge und Qualität des Bildmaterials die Einmaligkeit des Ermittlungsaufwandes, der von der Schwedischen Polizei betrieben wurde.
In der BRD sind bisher 12 Betroffene bekannt. Bereits drei von Ihnen wurden verurteilt. Das Strafmaß scheint sich dabei z.T. an den extrem hohen Urteilen in Göteborg zu orientieren: So wurde ein Betroffener in Berlin unter dem vergleichsweise geringen Vorwurf des "schweren Landfriedensbruchs" und der "versuchten gefährlichen Körperverletzung" zu völlig unverhältnismässigen 2Jahren verurteilt, die auf 3 Jahre Bewährung ausgesetzt wurden. Der Beschuldigte hatte zudem bereits über ein Monat Untersuchungs-Haft in der JVA Moabit verbüßt. Die beiden anderen Verurteilungen fielen etwas moderater aus, wobei das Strafmaß bei einem Betroffenen in Bremen mit einem Jahr auf drei Jahre Bewährung auch keineswegs als moderat einzuschätzen ist. Vermutlich 9 Verfahren stehen bundesweit noch aus.
Eigenheiten dieser Verfahren
Grundlage der Verurteilungen außerhalb Schwedens ist das Europäisches Übereinkommen über Rechtshilfe in Strafsachen. Nur die Straftatbestände sind verurteilbar, die auch in beiden Ländern strafbar sind. So konnte in der BRD z.B. keine Anklage wegen "passiver Bewaffnung" oder Vermummung erhoben werden, da dies in Schweden keinen Straftatbestand erfüllt. Umgekehrt wird bei dem Ermittlungsverfahren in Holland gegen den Betroffenen beispielsweise nicht wegen "Landfriedensbruch" angeklagt werden können, da es dafür nur in Schweden eine juristische Grundlage gibt, nicht aber in Holland. Allerdings betreiben die Schwedischen Behörden nun ein Auslieferungsverfahren, um auch den Straftatbestand "våldsamt upplopp" (entspricht ungefähr dem deutschen "Landfriedens-bruch") anklagen zu können. Komplett ändern wird sich die Situation allerdings ohnehin, wenn der Europäische Haftbefehl eingeführt wird.
Entscheidend für die Beweisführung in diesen Verfahren ist zum einen der Vergleich von bei Hausdurchsuchung beschlagnahmter Kleidung der Angeklagten mit denen der Personen auf dem Bildmaterial. Zum anderen werden für gewöhnlich biometrische Gutachten erstellt, bei denen die Körpermaße und v.a. Ohren und Hände der Personen (sofern diese nicht bedeckt waren) auf dem Bildmaterial mit denen der Angeklagten verglichen werden. Obwohl durch dieses Vorgehen nie mit 100% Sicherheit die Identität festgestellt werden kann, wird diese Art der "Überführung" in der Rechtspraxis anerkannt.
Ein besonderes Problem bei diesen Prozessen sind die hohen Verfahrenskosten aufgrund der Ladung von ZeugInnen aus Schweden. Die Aussicht von bis zu 20.000 EU pro Prozess, die im Falle der Verurteilung die Angeklagten erbringen müssen, wurde bei den Verurteilungen in der BRD zur Erpressung von Deals mit der Staatsanwaltschaft benutzt. Dies zeigt sich vor allem daran, dass die ZeugInnen fast nie irgend etwas zu den einzelnen Angeklagten hätten aussagen können.
Der wohl wichtigste Punkt ist jedoch, dass es nach wie vor insbesondere in Schweden aber auch in anderen Staaten kein öffentliches Bewusstsein über die Vorgänge in Göteborg gibt. Nur so ist erklärbar, wie z.B. Vernehmungsprotokolle in den Prozessakten landen konnten, in denen Polizisten zugeben, dass sie Steine auf ungeschützte DemonstrantInnen geworfen haben; ja, sogar die Protokolle der Polizisten, die in die Menge geschossen haben und drei DemonstrantInnen z.T. schwer verletzt haben, finden sich in den Akten!
Wenn wir heute auf die Straße gehen, so haben wir eine sehr konkrete Vorstellung davon, was sich ganz schnell ändern muss:
- Sofortige Freilassung aller Gefangenen von Gipfelprotesten
- Weg mit den rein politischen Straftatbeständen Landfriedensbruch, valtsam upplop, violent rioting etc.
- Politische und juristische Konsequenzen für die Polizei, insbesondere für die schießwütige Fraktion
- Sofortiges Ende der EU, insbesondere ihrer kapitalistischen Verwertungslogik und der rassistischen Abschottungspolitik
- Last but not least: Solidarität mit dem Gelöbnix


Kurzer Überblick über Situation in Schweden:
Die Vorgänge in Göteborg waren in mehrfacher Hinsicht ein absolutes Novum für Schweden. Sowohl das Ausmaß der Proteste wie auch das der Repression sind einmalig in der Nachkriegszeit. Auffällig ist dabei das Missverhältnis bei der Beurteilung der "Schuldfrage" im Bezug auf die Härte der Auseinandersetzungen. So wird den DemonstrantInnen im Allgemeinen noch die Verantwortung für die Schüsse anlastet, die nur zufällig keine Toten unter den DemonstrationsteilnehmerInnen gefordert haben.
Aber es gibt auch eine gegenläufige Entwicklung in Schweden. Bereits einige Monate nach dem Gipfeltreffen wies der Fernsehjournalist Janne Josefsson nach, dass in den Prozessen verwendetes Beweismaterial (Videos) durch die Polizei manipuliert worden war.
Dann musste inzwischen sogar von schwedischen Gerichten anerkannt werden, dass zumindest am ersten Tag die Auseinandersetzungen ausschließlich durch die polizeiliche Räumung des Treffpunktes der Demo-Koordination, der Hvitfeldskaschool, ausgelöst wurden. Håkan Jaldung, der Einsatzleiter Polizei bei dem Angriff auf die Schule, wurde Anfang Juni angeklagt (wobei das Verfahren höchst wahrscheinlich eingestellt werden wird - wie bereits geschehen bei den Beamten, die geschossen haben).
Anfang diesen Jahres wurden im lang erwarteten sog. Carlsson- Bericht (benannt nach dem Vorsitzenden der Untersuchungskommission, ehemaliger Premierminister) massive Defizite beim Vorgehen der Polizei festgestellt. Weitaus schärfer kritisiert der Amnesty International- Bericht von 2003 die Polizei und verurteilt außerdem das grobe Missverhältnis zwischen der Strafverfolgung von Polizisten und DemonstrantInnen.
Seit Januar gibt es Hungerstreiks in schwedischen Gefängnissen, begonnen von einem Verurteilten aus Protest gegen die fragwürdige Beweislage in seinem Prozess. Er soll einen Göteborger Pflasterstein über 25 m weit geschleudert haben, 7,5 m weiter als ein trainierter Handballspieler laut einer Untersuchung der schwedischen Polizei. Der Verurteilte versuchte daraufhin in einem offenen Brief an den Schwedischen Leichtathletikverband mit Hilfe der Urteilsschrift seine Aufnahme in das Nationalteam zu erwirken. Der Brief blieb allerdings bis jetzt leider unbeantwortet.