2008-12-11 

Europas enttäuschte Jugend

Seit einigen Jahren mehren sich die sozialen Proteste gerade von Jugendlichen, so waren es vornehmlich junge Menschen welche die Proteste gegen die G8- Gipfel, WEF und WTO mittrugen und es waren viele junge Leute die sich an den Protesten gegen den Krieg im Irak 2003 beteiligten. In Bern fand zu diesem Anlass mit über 10‘000 SchülerInnen gar die grösste Spontandemonstration seit den 1980er statt.

Solidaritätsdemonstration

Zuletzt formierte sich in Europa aber auch International eine Bewegung von StudentInnen und SchülerInnen, um gegen neoliberale Bestrebungen im Bildungswesen zu demonstrieren. Oftmals kam es zu Zusammenschlüsse von verschiedenen Gruppierungen und so war zuletzt zu beobachten, dass die Bewegung ihren Fokus merklich öffnete und sich selbst im Kontext des allgemeinen Sozialabbaus und Sparmassnahmen seitens der öffentlichen Hand zu sehen begann. So kam es zu gemeinsamen Aktionen und Demonstrationen von StudentInnen- und SchülerInnenvereinigungen mit den klassischen Gewerkschaften.

Nicht selten eskalierten solche Demonstrationen und endeten in Auseinandersetzungen mit der Polizei und es kam zu erheblichen Sachbeschädigungen. Immer wenn die Lage eskaliert, Steine flogen, Barrikaden brannten und wenn Wut und Enttäuschung in Gewalt umschlug, war die Presse und die bürgerliche Politik von links bis rechts schnell mit ihrem Urteil zur Stelle. Hirnlose „Chaoten“ seien da am Werk und handelten in reiner Zerstörungswut ohne Ziel, ohne Hemmungen und letztlich ohne Grund. Sicherlich ist dies aber nicht die ganze Wahrheit und hinter solchen Aussagen steckt eher das nicht eingestehen wollen, der eigenen Fehler. Denn Unruhen und Krawalle als eine Reaktion unbelehrbarer Spasskrawallanten abzutun, ist verständlicherweise einfacher, als diese als Folge von sozialen und gesellschaftlichen Missständen zu betrachten, an denen die Generation der politischen Elite - also sie selbst - massgeblich mitschuldig sind.

Gerade mit der Finanzkrise und dem damit verbundenen Scheitern des neoliberalen Kapitalismus als ganzes und der nun drohenden Rezession dürften die sozialen Konflikte immer deutlicher aufbrechen. Gerade weil auch immer grössere Teile der Gesellschaft von den negativen Auswirkungen betroffen sein werden. Milliardenbeträge wurden in den letzten Monaten von den staatlichen Regierungen den maroden Banken und Industriebetriebe zugesteckt, nicht selten soll nun auf dem Buckel der Bildung ein Teil dessen eingespart werden, was da zur Rettung des Systems investiert wurde. Ein System das eigentlich am Ende ist und einzig, um das eigene Scheitern nicht eingestehen zu müssen, am Leben gehalten wird. Jedenfalls, die Ereignisse haben Kontinuität – hier ein Versuch die Situation zu beleuchten.

Die Banlieue brennt 2005 – Paris brennt 2006
Ende 2005 erhob sich in den Vororten von Paris und anderen französischen Grossstädten jugendliche MigrantInnen. Nacht für Nacht versammelten sie Jugendliche in den Strassen, lieferten sich Strassenschlachten mit der Polizei, setzten Autos, öffentliche wie private Gebäude und ganze Bussdepots in Brand. Auslöser für die Ausschreitungen war auch damals wie heute in Athen ein toter Jugendlicher nach einem Polizeieinsatz gewesen. Über die tieferen Ursachen der Revolte wurde viel geschrieben. Allgemein anerkannt wurde, dass die Marginalisierung der BewohnerInnen der Banlieue ausgelöst durch tief verwurzelte Rassismen innerhalb der Gesellschaft, die Perspektivelosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und die komplette Ausgrenzung aus der französischen Gesellschaft massgeblich für die Krawalle verantwortlich seien. Die Unruhen rüttelten tief am französischen Selbstverständnis der gelungenen Integration und die Regierung versprach Besserung. Der damalige Krisenmanager Sarkozy ist mittlerweile französischer Staatspräsident und oberster Feuerwehrmann in der Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise, in den Vorstädten hat sich aber bis heute nichts geändert.

Einige Monate später im März 2006 erneut ähnlich Bilder in Paris, nur hat sich diesmal der Schauplatz der Krawalle von den Vorstädten in das Zentrum verlagert. Auslöser diesmal der Erstanstellungsvertrag für UniversitätsabgängerInnen (CPE Contrat Premier Embauche), welcher nach den Plänen von Jacques Chirac im Zuge einer Gesetzesänderung für mehr Chancengleichheit neu ausgestaltet werden sollte. Stein des Anstosses war die Streichung des Kündigungsschutzes bei Erstanstellungen. Diese Prekarisierung per Gesetz sollte in erster Linie den Jugendlichen aus den Vorstädten den Einstieg in die Berufswelt vereinfachen. Im ganzen Land wurden als Reaktion Schulen und Universitäten besetzt, darunter auch die altehrwürdige Sorbonne im Zentrum von Paris, in deren Nebenstrassen heftige Zusammenstösse mit der Polizei stattfanden, als diese versuchte das Universitätsgebäude zu räumen – was ihnen schliesslich auch gelang. Tagelang flammten die Zusammenstösse auf, Hundertausende StudentInnen und SchülerInnen demonstrierten unterstütz von den Gewerkschaften und der oppositionellen und radikalen Linken Land auf Land ab gegen den CPE, bis am 7. April 2006 die Regierung schliesslich nachgab und die Pläne zurück zog.

Bildungsproteste quer durch Europa
Seither haben sich quer durch Europa die Proteste von SchülerInnen und StudentInnen wie ein Flächenbrand ausgeweitet und es scheint fast, dass sie sich mit dem Ausbrechen der Finanzkrise noch verstärkt haben. Konkrete Auslöser der Proteste waren die Einführung von Studiengebühren, die Umsetzung der Bolognareform, Privatisierungstendenzen im Bildungswesen, massiver Abbau von Bildungsgeldern oder schlicht fehlende Perspektive nach Ausbildungsabschluss. Die Ursachen könnten vielfältiger nicht sein, haben jedoch zwei Gemeinsamkeiten. Einerseits dass auf Kosten der Ausbildung und somit direkt auf Kosten der Jugendlichen und junger Erwachsener gespart werden soll, andererseits, dass das Bildungswesen durch den Ausschluss der weniger wohlhabenderen immer selektiver wird.

So wurde etwa diesen Sommer bekannt, dass die italienische Regierung unter Silvio Berlusconi gedachte 8 Milliarden Euro im Bildungswesen einzusparen und weitere 7 Milliarden im öffentlichen Dienst allgemein. Die Antwort kam unter dem Motto "Vostra crisi non la pagheremo noi" (Eure Krise bezahlen nicht wir) postwendend. Mitte Oktober kam es zu ersten landesweiten Protesten und in dessen Verlauf wurden unzählige Schulen und Universitäten besetzt. Am 17. Oktober mündet die Mobilisierung in einen landesweiten Streik, organisiert durch die Basisgewerkschaften COBAS, RdB-Cub und SdL. Etwa 2 Millionen Menschen schlossen sich dem Streik an. Weite Teile der im Bildungswesen angestellten waren im Ausstand. Es beteiligen sich aber auch Feuerwehrleute, ArbeiterInnen des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs und Angestellte aus Sektoren welche stark von prekären Arbeitsverhältnissen betroffene sind. An der Grossdemonstration in Rom, welche unter den Augen der Polizei von einer Gruppe von Faschisten angegriffen wurde, beteiligen sich über 300‘000 Menschen darunter viele StudentInnen und SchülerInnen.

Die Proteste in Italien waren kein Einzelfall und längst hatte sich die Bewegung, welche die wachsenden Probleme klar mit den neoliberalen Bestrebungen des GATS (General Agreement for Trade in Services) koppelt, global vernetzt. Zu einem europaweiten Aktionstag gegen Bildungsabbau war es schon im April 2004 gekommen, damals versammelten sich auch in Bern (CH) 3000 Auszubildende. In Deutschland hatte die Mobilisierung im Kontext der Agenda 2010 schon länger angehalten und Ende 2003 waren diverse Universitäten besetzt worden und es kam zu grossen Demonstration mit bis zu 60‘000 TeilnehmerInnen. 2008 wurde erneut für den 5. November zu einem globalen Aktionstag „für eine freie und emanzipatorische Bildung“ aufgerufen. Weltweit kam es zu Protesten darunter auch in vielen europäischen Städten. Unter Anderem demonstrierten StudentInnen und SchülerInnen in Argentinien, Ägypten, Bangladesh, Bulgarien, Deutschland, England, Frankreich, Irland, Kanada, Kolumbien, Kroatien, Liberia, Mazedonien, Niederlande, Österreich, Serbien, Sierra Leone, Türkei und USA.

In Deutschland etwa wurde mit den Worten „Die Kommerzialisierung von Bildung ist Teil eines internationalen Prozesses, angetrieben durch eine ´neoliberale Ideologie` sowie den unersättlichen Hunger nach Profiten. Die Devise sollte lauten: Lernen für's Leben anstatt für den Arbeitsmarkt!“ zu dem Aktionstag mobilisiert. Im ganzen Bundesgebiet beteiligten sich etwa 100‘000 SchülerInnen wie StudentInnen und bestreikten Universitäten und Schulen. Der Aktionstag war aus Sicht der OrganisatorInnen ein voller Erfolg und die grosse Mobilisierung hatte deutlich aufgezeigt, dass die angesprochenen Probleme auch von den SchülerInnen und StudentInnen selbst als Bedrohung wahrgenommen werden.

In Frankreich wird zurzeit gegen eine weitere Reform des Bildungswesens des französischen Bildungsminister Xavier Darcos mobil gemacht. Im Zuge der Sparreform waren seit diesem Schuljahr landesweit bereits 11‘200 Stellen gestrichen worden, und gemäss Vorgaben sollen im nächsten Jahr nochmals 13‘500 Arbeitsplätze abgebaut werden. Weshalb es Ende Oktober mehrere 10‘000 SchülerInnen, LehrereInnen und StudentInnen erneut auf die Strasse trieb. Zu Beginn dieser Woche war es zu erneuten Protesten gekommen, in dessen Verlauf es auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Die Vereinigung de Schulrektoren in Frankreich bekundete öffentlich ihre Besorgnis, da die Proteste gewaltsamer ausgefallen seien als bisher und äusserte die Befürchtung, dass die Situation im Januar endgültig eskalieren könnte. In Italien steht am 12. Dezember ein neuerlicher Generalstreik an, an welchem sich auch wieder 10‘000 SchülerInnen und StudentInnen beteiligen werden, da der Konflikt um die Sparpläne der Regierung noch immer nicht gelöst ist. Und auch in Deutschland bahnt sich eine neuerliche Protestwelle an. So rüsten sich StudentInnen und SchülerInnen für eine weitere Runde im Kampf um Recht auf Bildung und Chancengleichheit. Welchen Einfluss der Aufstand in Griechenland auf die kommenden Aktionen und sozialen Kämpfe haben wird bleibt abzuwarten, fest steht aber, dass das Signal gehört wurde und die geäusserte Solidarität für die Proteste gross ist.

In Griechenland tobt ein Aufstand
Die Geschehnisse der letzten Tage in Griechenland bedeuten in einem europäischen Kontext eine enorme Zuspitzung der Situation. Denn auch wenn der Tod des 15- Jährigen Alexis Grigoropoulos durch einen Polizeikugel in der Nacht vom 6. zum 7. Dezember letztlich der direkte Auslöser für die heftigen Krawalle gewesen war, die bis heute andauern, so liegen auch in Griechenland die Ursachen tiefer. Die Bewegung umfasst auch dort StudentInnen, SchülerInnen, ArbeitnehmerInnen die Gewerkschaften, die Eltern der Kinder, Linksaussenparteien bis hin zu anarchistischen Gruppen. Eine Erklärung der Vollversammlung der besetzten Theaterschule von Thessaloniki verdeutlicht die Situation:

Seit Wochen und Monaten brodelt es in der griechischen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Krise und der Korruption der politischen Klasse, reichen sich die unterschiedlichsten Formen von Protest die Hände. Tausende von Häftlingen befanden sich im Hungerstreik, auf Corfu wehren sich BewohnerInnen mit allen Mitteln gegen eine Giftmülldeponie. Krankenschwester demonstrieren und setzen den Gesundheitsminister fest. ArbeiterInnen, die um ihre Löhne geprellt wurden, ziehen in die Hauptstadt, um dort zu demonstrieren. An den Schulen und Universitäten tobt seit Wochen eine Welle von Besetzungen und Protestaktionen einer Generation ohne Perspektive.

Auch der griechische Schriftsteller Petros Markaris betont in einem Interview gegenüber dem „Tages Anzeiger“ am 9. Dezember, dass ein grosser Teil der Frustration, welcher nun zu diesen Ausschreitungen geführt habe, seine Ursache im Scheitern des Bildungssystems habe. Ein Grundproblem sei, dass viele UniversitätsabgängerInnen keine Anstellung finden würden, aber auch die jahrelange Korruption in Politik und Wirtschaft werde nun gerade unter dem Vorzeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise zunehmend angeprangert.

Eine neue Qualität
Auch wenn Entrüstung und Unverständnis ab der Zerstörungen in vielen Äusserungen der Kommentatoren der internationalen Presse gross sind. So ist es nicht das Ausmass der Krawalle als alleiniges Phänomen, welche die neue Dimension auszeichnet. Sondern den Wechsel der Dimension auszeichnend sind die TrägerInnen der Revolte. Waren es 2005 in den Pariser Vorstädten, die seit Jahren marginalisierten Kinder von MigrantInnen die sich erhoben, so hat der jetzige Aufstand in Griechenland das Zentrum der Gesellschaft erreicht. Die Revolte hat den Ursprung in jenen Kreisen, die es sich lange gewohnt waren, einigermassen gut über die Runden zu kommen. Es sind die Kinder von LehrerInnen, ÄrztInnen, und BürokratInnen, welche hier die Luxusmeilen, Banken und Nobelhotels der griechischen Städte in Brand stecken.

Genau dieser Umstand sollte aber nicht nur die griechischen Politik Besorgnis bereiten, sondern sollte auch ein Mahnmal für die ökonomische und politische Elite von ganz Europa dafür sein, was passieren kann, wenn die gesellschaftliche Solidarität derart erodiert, die Ungleichheit immer stärker zunimmt und immer grössere Kreise der Gesellschaft von den negativen Mechanismen des Finanzkapitalismus betroffen sind. Die beständige Ausbeutung der Menschen als Humankapital, die konsequente Unterstellung der menschlichen Bedürfnisse unter jene der Gewinnmaximierung, die alltägliche Entsolidarisierung der Gesellschaft wird auf Dauer keinesfalls folgenlos bleiben. Die sich aktuell abzeichnende Wirtschaftskrise, auch wenn schnell bewältig, wird VerliererInnen hervorbringen, die den Anschluss verpassen werden.

Der Umstand, dass Gleichzeitig mit dem sozialen Leistungsabbau Milliardenbeträge in marode Banken und schwächelnde Industriebetrieb gepumpt werden, ist nur noch ein weitere Tropfen in ein Fass, das ohnehin beinahe überläuft und im Fall von Griechenland mit der Ermordung von Alexis übergelaufen ist. Die Frage ist demnach nicht ob, sondern nur noch wann und wo das nächste Fass überläuft.