2007-10-28 

Blicero: Genua ist nicht vorbei /2

Ich wusste, dass Oktober bei der Begleitung der genuesischen Verfahren kein berauschender Monat werden würde, das zu wissen hilft mir aber nicht, die Emotionen zu unterdrücken, die in mir aufkommen, wenn ich den Staatsanwälten Canepa und Canciani zuhöre. Der Monat Oktober ist der Monat gewesen, den sich die Staatsanwälte genommen haben, um die Ereignisse in Genua auf ihre Art neu zu interpretieren, um ihre Version der Geschichte vorführen zu können, ihre Version der Wahrheit, des Schuldig Seins und des Rechthabens. Zu sagen, dass sie nicht dem entspricht, was ich erlebt habe, oder ihr, ist gar nicht nötig.

Ihr Fazit ist aussagekräftiger als alles Andere: „Lasst und Genua als das bezeichnen, was es gewesen ist: Verwüstung und Plünderung“.

Bild. Genua 2001

Übertragen auf die Strafanträge bedeutet das Haftstrafen zwischen 6 und 16 Jahren für die 25 Personen, die die Anklage in Genua für all das verantwortlich hält, das in Genua passiert ist. Das heißt, dass Personen, die auf Dutzenden von Bildern porträtiert sind, während sie gar nichts tun oder bestenfalls ein Par Steine werfen, der Anklage nach zu ebenso vielen Jahren Haft verurteilt werden sollen, wie die Franzoni wegen der Ermordung des Kleien Sohnes. Zu allem Überdruss ist zu sagen, dass man sieht, wie die Staatsanwälte sich beim Halten ihrer Reden fühlen, wie die Überbringer einer neuen Moral in die verwüsteten und geplünderten Lande der italienischen Geschichte fühlen.

Eine neue Interpretation des Rechts, die in der Aussage: „die moralische Verantwortung ist in diesen Fällen wichtiger, als die materielle“ auf den Punkt gebracht wird. Wie viele von Euch fühlen sich verantwortlich für Genua? Oder auch nur „politisch verantwortlich“? Also, wir alle müssten, wenn es nach diesen Staatsanwälten gehen soll, wegen einer Straftat angeklagt werden, die aus der Vorkriegszeit stammt und uns Jahre Haft einbringen müsste. Viele Jahre.

Eine neue Interpretation der Geschichte und des gesunden Menschenverstandes, wenn Canepa auf jene Tage eingehen: „Die Personen haben sich vorsätzlich dafür entschieden, mit den Auseinandersetzungen fortzufahren. Nach dem ersten Sturm auf die Tute bianche, beispielsweise, der auf jeden Fall kurz war und nicht besonders gewaltsam, hätten sie ja immer noch zurückgehen und eventuell die Gewalttaten zur Anzeige bringen können, von denen sie Zeugen wurden“. Oder: „Die Ordnungskräfte können mit der Entscheidung, anzugreifen, einen Fehler gemacht haben, sie haben aber, als die Entscheidung einmal getroffen war, konsequent und nicht besonders schlecht gehandelt“. Und weiter: „Wir müssen schließlich daran erinnern, dass die Personen die Container deutlich früher auf die Straße geschoben haben, als die Mannschaftswagen bei hoher Geschwindigkeit stürmten, eine Handlung, die außerdem lediglich zwei oder drei Mal stattgefunden hat“. Die Staatsanwälte, die neuen Menschen, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, sind dabei, alles, was die Ordnungskräfte bei einem ihrer bekanntesten und tragischsten Debakel angestellt haben.

Die Höhe ist, dass die Staatsanwälte, um ihr Gewissen rein zu waschen, für wünschenwert erklären, dass „Bezüglich der von den Ordnungskräften vollzogenen Massakern, die verurteilt gehören, die gleiche Strenge walten möge“. Ich glaube, dass das Problem darin liegt, dass man sich über die Termina „Massaker“ und vielleicht auch „Ordnung“ verständigen muss, weil es sich bei den Handlungen unter den Arkaden der Via Gastaldi, oder im Hof der Firma Metalfer, oder während des Sturms auf der Via Tolemaide, oder am Samstag Nachmittag auf der Meerespromenade, den Staatsanwälten nach nicht um Massaker handelt, sondern um legitime Maßnahmen, um Unruhestifter zu zerstreuen. Weiterhin meinen die Staatsanwälte, dass die „Wahrung der öffentlichen Ordnung“ auch das bedeutet, was in Genua passiert ist. „Vielleicht wäre es besser gewesen, alles in der Hand der Demonstranten zu lassen, wird uns mancher sagen wollen!“, hat Frau Canepa gerufen. Ich dachte eine Sekunde lang, dass es bei einigen Straftaten gegen materielle Güter geblieben wäre. Und ich denke nach wie vor, dass ein Paar zerschlagene Scheiben und das eine oder andere abgebrannte Auto nicht den Tod eines Menschen Wert sind.

Weil ich mir weiter den Kopf zerbreche, ohne zu verstehen, wie man diese Dinge gleich setzen kann. Ich frage mich, wie es sei kann, dass die gleichen Staatsanwälte, die seinerzeit die Aussagen Placanicas entgegen nahmen, darauf beharren, jenen Akt (Die Ermordung von Carlo Giuliani, d.Ü.) für legitim zu halten, und nicht den Widerstand von Hunderttausenden von Menschen. Ich frage mich, wie es sein kann, wie einer der Staatsanwälte, die herbeigerufen wurden, während man zur Operation in der Diaz-Schule schritt, den Mut hat, Gerechtigkeit für jene Nacht einzufordern. Weil das wahre Problem darin liegt, dass diese Staatsanwälte nur zu gut wissen, dass die Straftaten, die den Polizisten vorgeworfen werden, 2009 verjähren, wie auch die im Bolzaneto-Verfahren, während die nach dem § 419 geahndete Straftat erst 2024 verjährt. Und sie wissen auch, dass es gar keine Straftat, die Massaker heißt, gibt, oder auch nur den Willen, etwaige Verurteilungen in etwas realistisches und bedeutsames zu verwandeln.

Wochenlang sind mir diese Gedanken immer wieder durch den Kopf gegangen, wobei ich gemerkt habe, dass alle um mich herum weiter denken, dass ein gegen eine Sache begangenes Delikt schwerer wiegt, als eins gegen eine Person, und dass deswegen 25 Personen, die zufällig unter 300.000 Demonstranten ausgemacht wurden, für alle zahlen müssen.

Nennen wir Genua als das, was sie gewesen ist: eine Revolte. Etwas, das das Blut in den Adern der Macht hat gefrieren lassen. Die bissige Schärfe der Staatsanwälte bei der Anklagerede, ihre Gier, in die Geschichtsbücher zu gehen, und jene streng zu bestrafen, die sie in die Finger kriegen konnten, sind das aussagekräftigste Zeugnis der Rachlust, die jene bewegt, die sich als Herz und Hüter eines Systems fühlen, das die, die in Genua waren, bekämpfen wollten.

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