2001-06-28 

Ich war in Göteborg

ATTAC Schweden hat jetzt zwischen 4.000 et 5.000 Mitglieder. Gemessen an der
schwedischen Bevölkerung ist das genauso viel oder mehr als in Frankreich - und
das weniger als ein Jahr nach der Gründung. Das ist ein bedeutendes politisches
Phänomen.

ATTAC Schweden bereitete den Gipfel in Göteborg seit mehreren Monaten vor und
führte Verhandlungen mit der Regierung und der Polizei, damit die Demonstrationen
gewaltfrei verlaufen.

Der Vorsitzende des Rates von ATTAC, Hans Abramsson, der einen Lehrstuhl für
Friedens- und Konfliktstudien an der Universität inne hat, stand im Zentrum des Vorbereitungsprozesses,
und America Vera-Zavala traf sich mit dem Premierminister
Goran Persson (das Photo von America in weißen Hemd mit rotem ATTAC Symbol
neben Persson war auf der Titelseite von „Metro“ – der Tageszeitung des Gipfels).
All dies steht in der schwedischen Tradition der Absprachen und des Konsenses und
nach Aussage der ATTAC-Mitglieder konnte gegenseitiges Vertrauen geschaffen
werden.

Die Anstrengungen waren jedoch vergebens. Die Probleme begannen am Donnerstag
Nachmittag. Die Regierung hatte mehrere Schulen geöffnet, damit die Aktivisten
dort übernachten konnten. Es kursierte das Gerücht, dass in einer Schule Waffen
versteckt seien. Die Leute in der Schule weigerten sich, die Schule zu verlassen.
Darauf hin ließ die Polizei große Container bringen, um die Zugänge zur Schule zu
blockieren. Es gab dann erste Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden
in einem benachbarten Park, wo die Polizei entgegen der Zusage bei den
Verhandlungen mit berittenen Einheiten eingriff.
Dennoch ereignete sich am Donnerstag nichts Schwerwiegendes, auch wenn die
Lage zunehmend gespannter wurde. Am Freitag wurden die Mitglieder der Gruppen
„Globalisation from Below“, „Ya Basta“ und „Tutte Bianche“ aus der Schule gedrängt.
Ich selbst war am Freitag im Alternativdorf, wo in Zelten zahlreiche Organisationen
Foren veranstalteten. Aber weniger als 500 Meter weiter hatten die Konfrontationen
und die Zerstörung begonnen.
Auf der großen Straße, die die Göteborger mit den Champs Elysées zu vergleichen
pflegen, war am Abend keine einzige Scheibe mehr ganz. Ungefähr zwei hundert
Personen war es gelungen, tausend oder mehr Polizisten in Auseinandersetzungen
zu verwickeln. Die Polizei, deren Fahrzeuge zerstört worden waren, war völlig überfordert
und gab scharfe Schüsse ab. Mindestens eine Person wurde im Unterleib getroffen
und ist schwer verletzt, andere wurden leicht verletzt. Die Schweden kannten
bisher derartige Gewalttätigkeit auf ihrem Territorium nicht und waren schwer schockiert.

Ich verurteile mit aller Klarheit und Eindeutigkeit diese Gewaltakte - und dies aus
mehreren Gründen.
Unabhängig von den philosophischen Fragen, die damit verbunden sind und jenseits
der Tatsache, dass unsere schwedischen Freunde ziemlich traumatisiert sind, spielt
die Gewalt dem Gegner in die Hände. Selbst wenn es Provokationen gab und auch
wenn die Polizei zuerst mit Handgreiflichkeiten begonnen haben sollte, wie dies häufig
der Fall ist, werden wir alle über einen Kamm geschert. Die Medien sprechen natürlich
nur über die Gewalt. Unsere Ideen, die Gründe für unsere Opposition, unsere
Vorschläge werden vollständig in den Hintergrund gedrängt.
Der Staat definiert sich durch sein „legitimes Gewaltmonopol“. Zu glauben, ihn auf
diesem Terrain herausfordern und gar besiegen zu können, zeugt nicht gerade von
einer tiefgehende politische Analyse. Wer glaubt, dass das Einwerfen von Scheiben
und Angriffe auf „Bullen“ eine Bedrohung des Kapitalismus sei, dem fehlt jegliches
politische Denken. Eine Bewegung kann sich nicht auf Grundlage einer Jugendkultur
und auf der Bereitschaft, sich verprügeln zu lassen, entwickeln.
Jeder der Angst vor Tränengas und Gewalt hat – Menschen meines Alters, Familien
mit Kindern, Menschen, die körperlich nicht so fit sind – werden zukünftig nicht mehr
an unseren Demonstrationen teilnehmen.
Das jedoch ist undemokratisch. Ich habe, ehrlich gesagt, die Nase voll von jenen
Gruppen, die sich nie an Aktionsvorbereitungen beteiligen, die der täglichen Kleinarbeit
fern bleiben, aber bei Demonstration gewissermaßen von oben einfliegen um
Randale zu machen, ohne sich um Vereinbarungen zu scheren, die andere ausgehandelt
haben. Darüber hinaus wird es die Bewegung aufspalten in jene, die Gewalt
verurteilen und jene die sie tolerieren.
Diejenigen, die Gewaltanwendung ablehnen und verurteilen, werden als „Reformisten“
bezeichnet. Der Gegensatz „Reform-Revolution“ macht jedoch im gegenwärtigen
Kontext keinerlei Sinn, und meiner Meinung nach stellt sich das Problem nicht.
Es ist nicht „revolutionär“ eine soziale Bewegung zu spalten und seine potentiellen
Verbündeten abzuschrecken. Es ist nicht revolutionär, bei einer breiten Mehrheit der
Bevölkerung Sympathie für unsere Gegner zu erzeugen. Es ist nicht revolutionär,
sich gegen jede Teilforderung (wie die Tobin Steuer) zu stellen und auf „das letzte
Gefecht“ zu warten. Das ist idiotisch und kontraproduktiv.

Kurzum, mir reichen diese tyrannischen Typen. Ich befürchte, dass wenn wir sie gewähren
lassen, sie diese Bewegung, die die größte Hoffnung seit dreißig Jahren ist,
zerstören werden.

Aus : "Grain de sable", elektronischer Rundbrief von ATTAC Frankreich, 18. Juni 2001
Übersetzung aus dem Französischen: Peter Wahl