2007-07-20 

junge welt: Gedenken an Carlo

Am 20. Juli 2001 traf eine Polizeikugel bei G-8-Protesten den Aktivisten Giuliani. Eine Bilanz der laufenden Prozesse

Hayo Plietsch

Am heutigen Freitag um 17.27 Uhr wird auf der Piazza Alimonda in Genua völlige Stille sein. An diesem Ort traf vor genau sechs Jahren, am 20. Juli 2001, den 23jährigen Carlo Giuliani eine Kugel in den Kopf, abgefeuert von einem Carabinieri. Heute gedenken Freunde und Kollegen, Anhänger der Rifondazione Comunista, Antifaschisten und Aktivisten verschiedener Gruppen von Globalisierungskritikern Carlos. Auch die Eltern und die Schwester Giulianis werden sich an der Kundgebung beteiligen. Zwischen dem 18. und 22. Juli 2001 hatten Hunderttausende gegen den G-8-Gipfel in Genua demonstriert, und die martialisch ausgerüstete Polizei, eine Truppe von etwa 20000 Mann, probte den Bürgerkrieg. Bis jetzt sind die in diesem Kontext stehenden juristischen Verfahren nicht beendet, geschweige denn die genauen Umstände des Todes von Carlo Giuliani geklärt.

Carlo ha scelto

Folterungen in U-Haft

Insgesamt laufen zur Zeit vier Prozesse im Zusammenhang mit dem G-8-Gipfel. Drei der Verfahren richten sich gegen Polizeibeamte, eines gegen 25 Demonstranten. Im »Perugini-Prozeß« sind sechs Angehörige der politischen Polizei DIGOS angeklagt. Ihnen wird Körperverletzung im Amt, falsche Verdächtigung sowie Falschaussage vorgeworfen. Sie sollen am Nachmittag des 21. Juli grundlos auf Jugendliche eingeprügelt haben. Die Beweislage ist ziemlich eindeutig, weil das brutale Vorgehen von mehreren Filmteams aufgenommen wurde. Einer der Polizisten hat bereits seine Schuld eingestanden und wurde zu 20 Monaten auf Bewährung verurteilt. Die übrigen fünf sollen voraussichtlich im Dezember ihr Strafmaß erfahren.

Im »Bolzaneto-Prozeß« sind insgesamt 45 Personen, darunter Polizeibeamte, Gefängnisaufseher, Ärzte und Sanitäter, angeklagt. Ihnen wird eine ganze Liste von Vergehen vorgeworfen, darunter Körperverletzung, unterlassene Hilfeleistung, Falschaussage und Verweigerung von Grundrechten. Im Untersuchungsgefängnis Bolzaneto kam es während des G-8-Gipfels auch zu körperlichen wie psychischen Folterungen an den etwa 300 Gefangenen, zum Beispiel in Form von Androhung sexualisierter Gewalt, von erzwungenem Stehen an der Wand, von Schlägen und Tritten. Nach der Sommerpause sollen die Schlußplädoyers gehört werden. Ob und in welcher Form die Täter in Uniform verurteilt werden, ist laut Prozeßbeobachtern noch nicht abzusehen.

Im »Diaz-Prozeß« geht es um die Stürmung der Diaz-Schule am späten Abend des 21. Juli 2001. Schlafende Gipfelgegner wurden dabei von Polizeieinheiten überfallen und brutal zusammengeschlagen. Insgesamt wurden 93 Personen festgenommen und 63 von ihnen durch die Beamten verletzt, zehn von ihnen schwer. Es sind mehrere Dutzend hohe Funktionäre des Polizei- und Geheimdienstapparates angeklagt. Ihnen werden die Straftatbestände Körperverletzung, falsche Verdächtigungen sowie Falschaussage zur Last gelegt. Nachdem die 93 Opfer des Polizeiangriffs sowie Ärzte und Journalisten für die Anklageseite ausgesagt haben, ruft seit Juni die Verteidigung ihre Zeugen auf. Es ist nicht klar, wie lange dieses Verfahren noch andauern und ob es zu einer Verurteilung der teils ranghöchsten Polizeifunktionäre Italiens führen wird. Unabhängig vom Prozeßausgang steht aber schon jetzt fest, daß die konkreten Polizeischläger wahrscheinlich niemals juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Denn wie so oft sind sie unter den vermummten Beamten »nicht ermittelbar«.

Dagegen richtet sich der »Prozeß der 25« gegen 25 Demonstranten, denen Plünderung und Verwüstung vorgeworfen wird. Die Staatsanwaltschaft hat dafür extra ein altes Strafgesetz aus Mussolini-Zeiten reaktiviert, das eine besonders hohe Strafe im Falle der Verurteilung garantiert. Dieses Gesetz verlangt keinen Einzeltatnachweis, sondern geht per »Organisationsdelikt« von einer kollektiven Verantwortung aller Angeklagten aus. Das Strafmaß liegt bei mindestens acht und maximal 15 Jahren Haft. Das Anwaltsteam hatte in den vergangenen Monaten versucht zu beweisen, daß einzig die Polizei und die Regierung für die Zerstörungen und die Verletzung der öffentlichen Ordnung verantwortlich sind. Dazu hatte die Verteidigung Tausende Film- und Videoaufnahmen ausgewertet und chronologisch geordnet, um sie den Aussagen der Polizeizeugen vor Gericht gegenüberzustellen. Nach der Sommerpause sollen auch hier die Plädoyers gehalten werden, ein Urteil wird für Oktober erwartet.

Verfahren in Strasbourg

Die Auseinandersetzung um die Ermordung Carlo Giulianis wird fortgesetzt. Nachdem es bereits am 5. Mai 2003 ein abschließendes Urteil vor einem italienischen Gericht gab, haben Carlos Eltern sowie seine Schwester im März dieses Jahres eine Klage gegen den Staat Italien vor dem Europäischen Gericht für Menschenrechte eingereicht. Diese Klage wurde von den Richtern in Strasbourg mittlerweile angenommen, das Verfahren wird vermutlich im November oder Dezember beginnen. Darin soll geklärt werden, wer für den Tod des Demonstranten verantwortlich ist.

Carlo Giuliani wurde durch einen Schuß aus einem Carabinieri-Jeep heraus getötet, anschließend fuhr das Auto zweimal über den reglosen Körper. Im Prozeß von 2003 waren zwei der drei Jeep-Insassen, allesamt Carabinieri, angeklagt worden. Die damalige Richterin verkündete in ihrem Urteil, daß der Fahrer, Filippo Cavataio, für Giulianis Tod nicht verantwortlich zu machen sei. Er habe wegen des Chaos rund um den Wagen nicht erkennen können, daß er Giuliani überrollt habe. Der zweite Carabiniere, Mario Placanica, wurde ebenfalls vom Tatvorwurf freigesprochen. Placanica habe, so das italienische Gericht, zwar in Notwehr einen Schuß abgegeben, jedoch nicht auf Giuliani, sondern in die Luft gezielt. Dort sei die Kugel von einem herumfliegenden Stein unglücklich abgelenkt worden. In die Stirn des Aktivisten.

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