2007-07-23 

ND: G8-Kritiker geben sich nicht geschlagen

Sechs Jahre nach den Polizeiübergriffen in Genua werden immer neue Fakten bekannt
Von Cyrus Salimi-Asl, Neapel
Vor sechs Jahren wurde der 23 Jahre alte Globalisierungsgegner Carlo Giuliani in Genua von einem Polizisten erschossen. Nach wie vor gibt es keine umfassende Aufklärung der Vorgänge während des G8-Gipfels und der Verantwortlichkeiten.

Es war der 20. Juli 2001, der G8-Gipfel in Genua beriet unter dem Vorsitz des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Der Todesschütze Marco Placanica, Carabiniere und ebenfalls jung, behauptete, in Notwehr gehandelt zu haben, als er die Schüsse auf Carlo Giuliani abgab. Wie in jedem Jahr treffen sich auch in diesen Tagen Globalisierungsgegner und Aktivisten aus ganz Italien in Genua, um der Ermordung Giulianis zu gedenken und Aufklärung der Ereignisse zu fordern.

2001

Noch immer sind viele Vorgänge um den blutigen G8-Gipfel 2001 ungeklärt; noch immer waschen Verantwortliche aus Polizeiapparat und Politik ihre Hände in Unschuld, noch immer laufen Prozesse, in denen die im Polizeigewahrsam misshandelten Aktivisten auf Gerechtigkeit hoffen. In den vergangenen Tagen sind Tatsachen bekannt geworden, die ein bedrückendes Bild der damaligen Situation zeichnen. Die illegale Stürmung der Schule »Diaz« am 21. Juli – dort befand sich damals das Pressezentrum des Genueser Sozialforums – war einer der brutalsten Übergriffe der Polizei auf die demonstrierenden Globalisierungsgegner, orchestriert mit falschen Beweisen und Manipulationen. In Aufzeichnungen des Polizeifunks zwischen den Beamten am Ort und dem Polizeipräsidium sprechen die Polizisten von »Zecken« und meinen damit die Demonstranten; eine Polizistin kommentierte den Tod Giulianis so: »Hoffen wir, dass alle sterben … eins zu null für uns!«
Beim Polizeiüberfall auf die »Diaz«-Schule wurden die dort nächtigenden Demonstranten mit Gummiknüppeln verprügelt, 93 verhaftet, darunter 66 Ausländer. Die Polizisten konstruierten falsche Beweise, brachten zwei Molotow-Cocktails in die Schule, ein Beamter fingierte einen Messerstich, den ihm angeblich einer der Demonstranten beigebracht habe. Laut Verhörprotokollen der festgenommenen Aktivisten hatte niemand von ihnen Angst, wollte niemand mit einem Anwalt oder der Botschaft seines Herkunftslandes sprechen.
Diese »Tatsachen« sind nun von der ermittelnden Staatsanwaltschaft Genua widerlegt worden. Die Verhörprotokolle waren vorab von den Polizisten ausgefüllt worden, um den Kontakt zwischen den gefangengenommenen Demonstranten und der Außenwelt zu unterbinden – das hat ein Schriftgutachten ergeben. Die Verantwortlichen sind nun der Dokumentenfälschung verdächtig.
Einer der damals verantwortlichen Polizeibeamten, Michelangelo Fournier, heute Vizepolizeipräsident in Rom, hatte bereits im Juni vor Gericht einen erschreckenden Augenzeugenbericht der Vorgänge in der Schule »Diaz« abgegeben, der für sich spricht: »Es war ein blinder Einsatz, und das, was ich gesehen habe, erschien wie ein Gemetzel. Ich habe Polizisten gesehen, die wehrlose Demonstranten verprügelt haben.« Ein Polizist habe einem Gefangenen die Finger einer Hand mit Gewalt so weit auseinandergebogen, dass die Haut aufriss.
Die Staatsanwaltschaft Genua ermittelt auch gegen den damaligen Polizeipräsidenten Gianni De Gennaro. Er soll den seinerzeitigen Polizeichef von Genua, Francesco Colucci, angestachelt haben, vor Gericht eine Falschaussage zu machen. Die Polizei hatte im Frühjahr dieses Jahres für rund einen Monat die Telefongespräche Coluccis abgehört, und die Staatsanwaltschaft konfrontierte De Gennaro kürzlich mit den kompromittierenden Aufzeichnungen. In den Gesprächen ist von Ratschlägen De Gennaros die Rede, wie sich Colucci vor Gericht verhalten solle.
Bereits Anfang Mai war Colucci wegen des Überfalls auf die Schule »Diaz« verhört worden. Dabei änderte er seine vorherigen Aussagen zu diesem Einsatz. Hatte er zuvor noch ausgesagt, dass der Befehl zum Einsatz direkt von De Gennaro kam, nahm er nun alles auf die eigene Kappe: »Es war allein meine Initiative.« Der in der vergangenen Woche dazu angehörte De Gennaro wies alle Vorwürfe von sich und sagte, dass er Colucci niemals aufgefordert habe zu lügen. Damit war für ihn die Sache erledigt. De Gennaro ist heute Kabinettschef des italienischen Innenministers.

[http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=113225&IDC=2]