2007-06-03 

Medienhysterie // 02.06. Rostock Anti-G8 Demo

Erlebnisbericht zur Internationalen Großdemo in Rostock am 02.06.
Hallo Leute,

es ist Sonntag, 13 Uhr, 24 Stunden nachdem die Großdemo gegen den G8-Gipfel in Rostock begonnen hatte.
Diese Text soll nun ein Erlebnisbericht über den Aktionstag in der Hansestadt sein und ich möchte euch mit dem Bericht dazu auffordern, die bürgerlichen Berichterstattungen (Spiegel, FAZ, Bild usw.) unbedingt kritisch zu lesen, es ist absolut nicht alles wahr und objektiv, was dort aufgeschrieben, gezeigt und gesagt wurde und wird!

Glasbruch

Die Demo:
Also, nachdem wir, eine Gruppe von vier Student_innen, darunter Aktive aus verschiedenen Zusammenhängen, am Samstagmorgen aus Mitteldeutschland nach Rostock mit dem Auto aufgebrochen waren, kamen wir ohne Stau und ohne Kontrollen am Vormittag in Rostock Südstadt an. Dort in der Nähe, auf dem Platz der Freundschaft, sollte einer der beiden Demonstrationszüge beginnen, an dem wir im Block „Make Capitalism History“ teilnehmen wollten. So fanden wir uns denn gegen Mittag ein auf dem Platz zwischen Tausenden bunter, internationaler, friedlicher Demonstranten. Unser Block wurde begleitet von einem Lautsprecherwagen, der neben politischen Beiträgen auch viel Musik spielte und deshalb für uns Spaß und gute Laune versprach. Zwei von uns vieren waren schwarz gekleidet, wir setzten auch unsere Sonnenbrillen auf, die anderen zwei trugen bunte Regenjacken. (Diese Erwähnung hat ihre Bedeutung für die Ereignisse auf dem Kundgebungsplatz und die Berichterstattung darüber).
Kurz nach 13 Uhr ging die Demo los, mit lauten Sprechchören, Redebeiträgen, Musik und Tanz. Zunächst wollten wir Ketten bilden zusammen mit anderen aus dem Block, die auch größtenteils schwarz gekleidet waren. Doch schnell wurde klar, dass während der Demo kaum Polizei zu sehen war und keine Aktionen von ihr zu erwarten waren. So konnten wir alle entspannt und bunt gemischt über die Straßen in der Demo laufen. Aus der Demo herauskam es von meiner Position aus lediglich zu einem Angriff auf eine Sparkasse und kleineren Rangeleien mit den Bullen.

Pflastersteine im Straßenbahngleisbett:
Komisch an der Route kam mir allerdings vor, dass die ausgewählte Straße in der Mitte ein Straßenbahngleis führte, in dessen Gleisbett haufenweise Pflastersteine lagen. Wenn man die Route dort entlang akzeptiert, dann muss man auch damit rechnen, dass solche losen Steine zum Mitnehmen durchaus einladen…
Ich nahm keine mit und als wir unter eine Straßenbrücke durchliefen, auf welcher einige Polizisten standen, wurden diese auch nicht beworfen. Unter der Brücke schwollen die Protestrufe an, das war für alle eine tolle Motivation, denn der Klang war aufgrund des Echos beeindruckend.

Radisson-Hotel:
Für mich enttäuschend leise war es dann aber, als die Route am Radisson-Hotel vorbeiführte, wo doch auch Gipfel besuchende Amerikaner ihre Zimmer hatten. Ich hätte mir grade da andauernde Sprechchöre mit enormer Stimmgewalt gewünscht, die aber leider zumindest in meinem Demoteil ausblieben.

Verbarrikadierte Innenstadt?:
Die Route war nicht so lang, führte zum Teil durch die Innenstadt, wo nicht alle Geschäfte ihre Fenster verbarrikadiert hatten, wie es so dramatisch in der Presse zuvor berichtet wurde. Soviel Angst war dann wohl doch nicht da. Einige Bürger sahen von den Fenstern ihrer Wohnungen zu, eine Oma winkte uns, aber ansonsten war die Stadt leer. Kurz vor dem Hafen führte die Demo auf der Straße „Am Strande“ entlang, da konnte uns keiner sehen, weil dort sämtliche Häuser leer standen. Auch wieder ein negativer Aspekt für die Routenwahl.

Ankunft auf dem Kundgebungsplatz:
Aber dann waren wir mit unserem Zug auf dem Kundgebungsplatz angekommen. Wir sahen uns ein wenig um, Sonnenbrille und schwarze Kapuzen behielten wir auf. Wir beschlossen, noch einmal in die Nähe des Lautsprecherwagens unseres Blocks zu gehen, falls dort noch Ankündigungen oder Redebeiträge zu hören waren. Eine Peron wollte sich eine Bratwurst von einer der zahlreichen Imbissbuden kaufen. Doch als wir nur einige Meter von dem Platz entfernt waren und in Richtung des Lautsprecherwagens gingen, kam uns plötzlich eine panische Masse von Demonstranten entgegen, hinter ihnen eine Horde gepanzerter Polizisten. Völlig überrascht wichen wir zurück. Jetzt standen wir also wieder auf dem Platz zwischen den Würstchenbuden und zusammen mit anderen erschrockenen oder auch nichtsahnenden Demonstranten, die grade ihren Crèpes in der Hand hielten oder ein Kind auf die Schultern gehoben hatten.

Zurückdrängung der Demonstranten hin zum Wasser:
Da kam aber von vorn ein weiterer Schub gejagter Demonstranten und hinter ihnen wieder die laufenden Polizisten. Jetzt waren wir wirklich beunruhigt. Was wollten die Polizisten mitten auf dem Kundgebungsplatz? Wohin sollten die Demonstranten gescheucht werden? 20 m hinter uns war das Hafenwasser, zwischen uns, wie gesagt, die vielen Imbissbuden und am Rande die Veranstaltungsbühne. Neben uns nahm eine Demonstrantin schnell ihren Kinderwagen und schob ihn näher an das Wasser. Uns war die Sicherheit direkt am Kai aber nicht so geheuer, immerhin waren die Polizisten schon weit auf den Kundgebungsplatz vorgedrungen. Auf Würstchen hatte niemand mehr Hunger und so gingen wir zu der Bühne. Auch dort waren die Veranstalter erschrocken und noch nicht im Bilde, warum plötzlich die Polizei alles andere als Deeskalation gezeigt hatte. Es wurde aber schnell klar. Am Lautsprecherwagen muss es zu Rangeleien gekommen sein, ein oder zwei Demonstranten hatten vermutlich Steine geworfen.

Ankunft des zweiten Demo-Zugs:
Das Problem war jetzt aber, dass der andere Demozug noch nicht angekommen war, auf der Straße vor dem Kundgebungsplatz die Polizei aber schon ordentlich am Knüppeln und Reinlaufen war. Wiederholt drangen sie bis auf den Platz vor, wo sich die friedlichen Demonstranten versammelten. Als nun aber der zweite Demozug genau auf dieser Straße ankam, eskalierte die Situation. Die ersten Blöcke des ebenfalls friedlichen Zuges wurden sofort in Mitleidenschaft gezogen. Die Polizisten hielten den Zug an, ließen ihn nicht zu Ende demonstrieren und griffen die ersten Reihen grundlos an. Da die Polizisten sich auch schon auf und an dem Kundgebungsplatz befanden, war es für die grade angekommenen friedlichen Demonstranten nicht mehr möglich, zu dem Platz zu gelangen. Protestrufe entstanden und immer wieder Attacken von der Polizei gegen Demonstranten, die versuchten, auf den Platz zu den Würstchenbuden und der Bühne zu kommen. Also schon hier zu Beginn der Kundgebung am frühen Nachmittag hatte die Polizei ihre Strategie der Deeskalation offensichtlich verlassen und übte nun einen schwer verständlichen Plan B aus, von dem sie bis zum Abend auch nicht mehr abließen, wie sehr die Demonstrationsleiter sich auch um Diplomatie bemühten.

Weitere Provokationen der Polizei:
Eine zweite große Provokation von Seiten der Beamten bestand darin, dass sie direkt über dem Platz vor der Bühne, einen, zeitweise auch zwei, Helikopter fliegen ließen. Während die Veranstalter auf der Bühne mit Musik, Redebeiträgen und klugen Appellen zur Beruhigung an alle Demonstranten versuchten, die Lage zu entspannen, konnte man sie alle nur sehr schwer verstehen, weil die Polizeihelikopter niedrig und permanent über dem Platz schwebten und mit ihrem Lärm eine sehr nervige, angespannte Atmosphäre schuf. Wir vier hatten eigentlich vorgehabt, jetzt erstmal etwas zu essen und auf dem Platz vor der Bühne zu bleiben, weil er uns sicher erschien, aber das Helikoptergeräusch war so nervig, dass wir beschlossen, doch wieder weiter weg von der Bühne zu gehen, also in Richtung des Eskalationsortes auf der Straße, da in der anderen Richtung ja leider schon das Hafenwasser war.

Verhandlungen zum Abflug des Helikopters:
Die Demonstrationsleiter verhandelten natürlich sofort mit der Polizei über den Abflug des Helikopters, sie argumentierten klar, dass das nervtötende Geräusch das Bühnenprogramm übertönte und damit keinerlei Entspannung in die hitzige Lage bringen würde, sondern eher die friedlichen Demonstranten vom Platz wegtreiben würde, wie es ja bei uns auch exempelhaft geschehen war. Aber die Beamten waren so unnachgiebig, dass erst nach einer Stunde dann endlich der Hubschrauber abgezogen wurde, aber auch nicht konsequent, sondern nur etwas höher und etwas in Richtung der Straße verlagert wurde. Das war hier eine reine Provokation, wie man sie aber auch von anderen kleineren und größeren Demos in Deutschland von der Polizei kennt.
Die Veranstalter haben sich dennoch damit zufrieden gegeben und mit ihrem Programm weitergemacht.

Weitere überraschende Angriffe von der Polizei:
Wir allerdings hatten inzwischen am anderen Ende des Platzes gegessen und ich stand grade bei den Dixieklos in der Schlange, die anderen warteten etwas abseits. Da kamen plötzlich genau bis vor die Klos erneut die Polizisten rein, und wir flüchteten zurück zum Wasser. Als sich die Lage beruhigt hatte, stellte ich mich wieder an die Toiletten, doch es war nichts zu machen, schon wieder kamen die Beamten an. Das wurde uns dann zu bunt, wir beschlossen, in die Stadt zu gehen und diesen nun auch gefährdeten Ort der Kundgebung erstmal zu verlassen.
Aber hier wird schon klar: Vielen muss es so wie uns gegangen sein. Mit völlig friedlichen Absichten am Platz angekommen, sind wir dort von Anfang an so erschreckt worden von der Polizei, dass wir uns gezwungen sahen, in die Stadt zu gehen, wo wir doch eigentlich besser nicht hinkommen sollten wegen der „Randalegefahr“. Diese Entwicklung wurde aber provoziert. Und es sind nun mal nicht alle so friedlich wie wir es an dem Tag waren, viele werden sich VERBAL mit den Polizisten angelegt haben, um deren Motivation herauszukriegen und dabei gab es dann sicherlich viele Eskalationen.

Absolut ruhige Innenstadt:
Wir gingen nun also in einigem Abstand zu dem Gewaltausbruch über die Straße am Hafen und rein in die Stadt – und waren sehr überrascht, wie ruhig es schon eine Parallelstraße weiter war. Ich ging in einem Restaurant auf Toilette, traf dort lustiger Weise Polizeibeamtinnen, dann gingen wir ein bisschen tiefer in die Innenstadt. Dort waren die Restaurants geöffnet, kirchliche Demonstranten begegneten uns, eine Nonne wies mich darauf hin, dass ich noch eine Sonnebrille trüge, obwohl es doch grade nieselte. Lachend nahm ich sie ab. Jetzt erst sah ich ja nicht mehr wie ein_e „Autonome_r“ aus, jetzt erst war ich nicht mehr „vermummt“.
Wie gesagt, in der Stadt war es völlig friedlich und ruhig! Nichts war dort zu spüren von den Krawallen eine Straße weiter.
Nach einem warmen Kaffee beschlossen wir, wieder zurück zu der Veranstaltung zu gehen, um wenigsten noch einige Redebeiträge und noch eine Band zu sehen.
Wir kamen auch völlig problemlos wieder an den Hafen, allerdings nicht direkt von der Straße, da gab es ja die Kämpfe, sondern wir liefen schon eher zum Kai und gingen an ihm entlang bis zu der Bühne.

Verletzte unter den Demonstranten:
Auf dem Weg sahen wir mindesten drei Verletzte, allen wurde das Tränengas der Polizei aus den Augen gewaschen. Darunter waren ein alter Mann mit grauem Bart, ein bunt (also nicht schwarz) gekleideter und ein als Arzt verkleideter Demonstrant, vermutlich einer von den „Ärzten ohne Grenzen“. Also: keine „brutalen Krawallmacher“ sondern friedliche Demonstranten, die sich wohl in der Nähe der Bühne befanden (wo also landeten wohl jeweils die Tränengaspatronen? Falls jetzt übrigens eine/r das Zitat aus dem Spiegel verwenden möchte, dass auch Patronen mit kyrillischer Schrift gefunden worden seien, so sei dieser/m gesagt, dass die deutsche Polizei Unterstützung von der russischen bekommen hat für den G8-Gipfel…)

Bands auf der Bühne:
Auf der Bühne versuchte nun Juli relativ vergeblich, Stimmung in die angespannte Menge zu bekommen. Die Band fühlte sich unwohl, dort auf der Bühne eine Show abzuziehen, während im Hintergrund Demonstranten verprügelt wurden. Nicht anders erging es auch den übrigen Auftretenden. Deswegen gaben sie auch alle ihrem Protest gegen die rüde und überzogene Gewalt der Polizei eine laute Stimme und riefen immer wieder durch das Mikrophon auf, dass sowohl die Demonstranten als auch die Polizei sich zurückziehen sollten und Vernunft annehmen sollten.

Wasserwerfer:
Doch leider antwortete die Polizei auch auf die Verhandlungsbemühungen der Demonstrationsleiter hin mit der Positionierung vierer Wasserwerfer direkt auf dem Kundgebungsplatz hinter den Leuten, die vor der Bühne standen.

Irie Révolté:
Auf die Bühne war nun die Band Irie Révolté aus Heidelberg erschienen, die es als erster Beitrag auf der Kundgebung endlich schafften, die Demonstranten vor der Bühne komplett für sich einzunehmen, und deren Wut austanzen zu lassen. Diese Band schaffte es, die Gemüter der friedlichen Demonstranten, die mittlerweile alle wütend über die Polizei waren, zu besänftigen mit energiegeladener Ska-Hiphop-Musik. Die Menge sprang und tanzte sich wirklich die Seele frei, was sie den ganzen Nachmittag schon machen wollte, nur wurde sie daran gehindert durch Helikopter, immer wieder heranstürmende Polizistenscharen und explodierende Tränengaspatronen weiter hinten auf dem Kundgebungsplatz.
Nach dieser Band beschlossen wir vier, zu unserem Auto zurückzukehren und nach Hause zu fahren, 5 Stunden Autofahrt lagen noch vor uns. Auf dem Weg zurück durch die Stadt war nichts weiter zu sehen oder zu hören, die Stadt lag ruhig (kurz nach 20 Uhr)

Mein Fazit:
Es ist eine absolute Frechheit, wie heute die Medien über den Aktionstag gestern berichten. Die Worte über die friedliche Demo sind verschwindend gering und es überwiegen die Berichte über die Krawalle während und nach der Kundgebung.
Völlig undifferenziert werden die Leute, die das eine in unmittelbarer Demonähe vereinzelt geparkte Polizeiauto angegriffen haben als Auslöser der Schlachten verantwortlich gemacht.
Dabei wird nicht betrachtet, dass die Polizei mit solchen (kleineren) Ausschreitungen gerechnet hat, auch mit einigen Steinwerfern (die zu Beginn zahlenmäßig wirklich noch gering waren), denn Steinewerfer gibt es sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern auf jeder Demo und grade bei der G8-Gegen-Demo konnte damit gerechnet werden, weil die Demo-Masse sehr bunt gemischt war.
Da verstehe ich es absolut nicht, dass die Polizei sofort auf diese zunächst kleineren Vorfälle so eingehen musste – das ist nicht das Deeskalationsprinzip!
Deeskalation bedeutet, sich nicht sofort provozieren zu lassen und nicht selbst zu provozieren. Genau das Gegenteil hat die Polizei aber gemacht!
Das dann Leute, deutsche und nicht deutsche Demonstrant_innen, diesen sofortigen unüberlegten Angriff der Polizei ausnutzen, ist und war vorherzusehen!
Und noch mal: Ein Teil meiner Gruppe, lief genauso gekleidet auf der Demo mit, wie die vermeintlich 3000 „brutalen Krawallmacher“ des schwarzen Blocks. Ich habe mich bewusst so angezogen und werde das in Zukunft aufgrund dieser Berichterstattung in den Medien heute auch immer tun, damit offensichtlich wird, wie unkritisch solche Bemerkungen aufgenommen und hingeschrieben werden! Ich habe dort nicht einen Stein aufgehoben und wie viele ebenfalls schwarz gekleideter oder Vermummter (mit Sonnenbrille und Tuch) Demonstranten haben es auch nicht getan und werden jetzt einfach zu den 3000 Gewalttätigen dazugezählt, um die Zahl hübsch aufzublasen!

Don't believe the hype!
Schafft Gegenöffentlichkeit!

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