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2007-07-06

Thomas Seibert: Zehn Thesen zur Heiligendamm-Mobilisierung

1. Die Heiligendamm-Mobilisierung war die im Maß der Beteiligung wie im Maß der öffentlichen Beachtung seit Jahren bedeutsamste Mobilisierung der Zivilgesellschaft, der sozialen Bewegungen und der politischen Linken in Deutschland und für uns alle deshalb rundweg ein Erfolg. Punkt.

2. Ein nicht minder großer Erfolg war die nur zwei Wochen später vollzogene formelle Gründung der Partei DIE LINKE. Nimmt man beides zusammen, kann gesagt werden, dass wir alle, also auch die, die kein Parteimitglied sind und das auch nicht werden wollen, einen Doppelschlag landen konnten. Wem ein Vergleich hilft: Ich denke, dass der Linken in Deutschland (im weitesten Sinn des Wortes) im Moment objektiv die Chancen gegeben sind, die den Linken in Italien „zwischen“ Genua und Florenz gegeben waren. Um jetzt gleich Druck zu machen: in Italien wurde diese Chance verspielt, zerbrach die Euphorie von Florenz im machtpolitischen Elend, dem sich die Partito Rifondazione Comunista nicht zu entziehen wusste. Ähnliches kann uns, unter im Konkreten anders gestellten Bedingungen, auch passieren. Es ist also, komplementär zur Begeisterung, Vorsicht geboten...

3. Wesentliches Moment dieses Erfolges ist der gar nicht hoch genug zu bewertende Umstand, dass die Linke in Deutschland endlich zu einer generationenübergreifenden Linken geworden ist. Anders als vor allem in den 1990er Jahren gibt es wieder eine jugendliche Linke, und zugleich ist diese Linke, anders als in der Epoche nach 1968, nicht einfach nur eine Jugendlinke. Damit ist, was wiederum gar nicht hoch genug bewertet werden kann, eine der vielleicht eher unscheinbaren, nichtsdestotrotz weitreichendsten Folgen des deutschen Faschismus und des westlichen Nachkriegsantikommunismus überwunden.

4. Zurück zur Mobilisierung, von der festzuhalten ist, dass sie trotz der enormen Anstrengungen aller Beteiligten lange vor sich hindümpelte und erst nach der staatlichen Repressionswelle ansprang, d.h. erst im letzten Moment. Insofern kommt ihr – was wichtig ist – auch der Charakter eines Ereignisses zu, d.h. der Charakter von etwas, das nicht einfach auf ein strategisches Kalkül verrechnet werden kann: Wir hatten schlicht auch Glück. Selbstverständlich ist das nicht als Rechtfertigung der Repressionspolitik des Bundesinnenministeriums zu verstehen.

5. Getragen wurde die Mobilisierung vom breitesteten Nicht-Bündnis-Bündnis, an das jedenfalls ich mich erinnern kann. Das Spektrum reichte von einzelnen FunktionärInnen der Grünen über VENRO, große und kleine NGOs, kirchlich-aktivistischen Zusammenhänge (Gerechtigkeit jetzt, Deine Stimme gegen Armut), die Funktionärslinke sowohl der IG Metall wie der LINKEN, verschiedenste Initiativen der gesellschaftlichen Linken, Friedens-, Umwelt- und Antifabewegung bis zur radikalen Linken (Interventionistische Linke, dissent!-Netzwerk, autonome Gruppen) und international(istisch)en TeilnehmerInnen.

a.) Es war ein Nicht-Bündnis, weil die Mobilisierungsarbeit hochgradig arbeitsteilig erfolgte, wobei im Grunde jedes „Modul“ (Demo, Camps, Block-G8, Alternativgipfel, Konzerte) für sich selbst mobilisierte. Das organisatorische Dach war nicht eigentlich ein politisches, sondern eher ein Gremium der bloß pragmatischen Abstimmung. Es war aber auch deshalb ein Nicht-Bündnis, weil sich die großen NGOs und die Umweltverbände, von der finanziellen Unterstützung abgesehen, auf ihre vier Vorbereitungsveranstaltungen und ihr Konzert beschränkt und für die Mobilisierung und die Durchführung der Protestwochen ansonsten wenig getan haben. Ausnahmen waren da einerseits (wie immer) WEED und medico, andererseits – wichtig, weil neu und überhaupt - Greenpeace.

b.) Es war trotzdem ein Bündnis, weil der wie immer zu bestimmende Zusammenhang aller Beteiligten selbst über den Samstag hinweg gehalten hat und die diversen Module sich zuletzt ausdrücklich und öffentlich aufeinander bezogen haben: ich verweise nur auf die standing ovations, die den Blockaden auf der Abschlussveranstaltung des Alternativgipfels zuteil wurden.

6. Aufgrund der Zurückhaltung der NGOs und des Umstands, dass Gewerkschaften wie LINKE nur durch ihre Funktionärslinke (ich meine das nicht abwertend!) vertreten waren, wurde attac quasi automatisch und ansonsten wie erwartet zum zentralen Akteur in der Mitte des ganzen Spektrums. Wirklich stimmig ist diese Feststellung aber nur, wenn zugleich vermerkt wird, dass attac sich diesen Platz mit der Interventionistischen Linken (IL) geteilt hat, deren Einsatz für das Zustandekommen des Nicht-Bündnis-Bündnisses, für die Mobilisierung, für die Durchführung der Protestwoche und für deren mediale Repräsentation von entscheidender Bedeutung war. Das aber heißt: anders als in der Zeit nach Genua ist attac nicht einmal mehr für die Medien der alleinige Vorzeigeakteur der globalisierungskritischen Bewegung bzw. der sozialen Bewegungen überhaupt. Diese Relativierung bezieht sich im Übrigen nicht nur auf die IL, sondern - trotz des oben stehenden Vorbehalts – auch auf DIE LINKE (dazu unten mehr) und, was letztlich noch wichtiger ist:...

7. ...auf die AktivistInnen der Mobilisierung und vor Ort selbst, die aus den Reihen von attac und alle anderen. Sie waren es, die für die Dynamik und damit für den Erfolg der Protestwoche verantwortlich waren, und sie waren dies – was ein besonderes Zeichen der Reife und des Selbstbewusstseins ist – indem sie im wortwörtlichen Sinn autonom handelten und sich dabei zum Teil gegen Fehleinschätzungen ihre eigenen „RepräsentantInnen“ durchsetzten. Es reicht, hier zwei Punkte zu nennen:

a.) überhaupt die Tatsache, dass nach dem Wochenende bis zu 20.000 Leute vor Ort blieben bzw. neu anreisten,

b.) der Umstand, dass der von einem Teil der eigenen Führung versuchte Ausstieg attacs aus den Blockaden von den attac-AktivistInnen des Camps Rostock selbst verhindert wurde. Da die Blockaden aber überhaupt das Modul des Protests war, das der ganzen Sache zum Durchbruch verhalf, heißt das gar nichts anderes, als dass die selbstständige Eigentätigkeit der AktivistInnen für den letztendlichen Erfolg verantwortlich war. Dies ist die wichtigste Lehre des ganzen Prozesses, wer sie nicht versteht, hat gar nichts verstanden!

8. Das Selbe gilt allerdings auch für die Krise der Protestwoche - den Samstag. Die Angriffe auf die beiden Verkehrspolizisten, die Zündeleien und Stein- und Flaschenwürfe auf dem Platz gingen von Leuten aus, die sich am Bündnis-Prozess nicht beteiligt hatten und außerhalb aller Verabredungen derjenigen handelten, die diesen Prozess trugen. Ich persönlich finde diesen Umstand – die offene Missachtung des Gesamtprozesses, mindestens aber die Ignoranz gegenüber diesem Prozess – schlimmer als die Gewalt als solche, die genau besehen gar nicht so massiv war wie die gezielte Desinformation durch Polizei und Medien sie erscheinen ließ. Hier müssen zwei Lehren gezogen werden:

a.) Militante Aktionen (unverantwortliche wie verantwortliche) sind offensichtlich ein bleibendes Begleitmoment globalisierungskritischer Proteste. Man mag dies bedauern, man kann bestimmte Formen dieser Militanz sogar zum Kotzen finden: es ist nun einmal so. Diese Feststellung ist kein Fatalismus, sondern Anerkennung des Bewegungscharakters sozialer Auseinandersetzungen selbst.

b.) Es wird, wieder eine Relativierung der eigenen Rolle, nur bedingt an attac hängen, hier Änderungen zu erreichen: attac ist nicht der Akteur, der mit dem für die Ereignisse auf dem Platz verantwortlichen „Milieu“ ins Gespräch kommen kann. Oder, genauer gesagt: attac wird mit diesem Teil der Bewegung nur dann ins Gespräch kommen können, wenn die Distanzierung von ihm (zu der attac jedes Recht hat!) nicht – wie bei einzelnen Sprechern geschehen - die Form eines de facto-Bündnisses mit der Polizei einnimmt. Muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die brutalste und bei weitem massivere Gewalt im Vorfeld und vor Ort von der Polizei ausging?

Einschub: Prinzipielle Gewaltfreiheit ist nicht einmal innerhalb von attac Konsens. Jeder Versuch, der ganzen Bewegung prinzipielle Gewaltfreiheit aufzunötigen, ist zum Scheitern verurteilt. Gewalt muss deshalb von denen, die sie nicht wollen, nicht einfach hingenommen werden: doch wird die Gewaltfrage immer nur situativ und immer nur auf dem Wege solidarischer Verhandlungen zu lösen sein. Der nur relativen Bedeutung attacs in diesem Zusammenhang entspricht, dass anderen Teilen der Bewegung hier eine größere Verantwortung zukommt. Wenn attac auch nicht die Möglichkeit und darüber hinaus auch gar nicht das Recht hat, von allen prinzipielle Gewaltfreiheit einzufordern, so hat attac doch alles Recht, die Übernahme dieser Verantwortung offensiv einzufordern.

9. Zurück zur LINKEN und damit zur Parteifrage. Nicht nur, dass die Linke in Deutschland jetzt wie anderswo eine generationenübergreifende ist, sie verfügt jetzt auch über eine (neo-)links-sozialistische Partei. Die Formierung solcher Parteien ist ein europa-, letztlich wohl ein weltweiter Prozess der letzten zehn Jahre, der aus dem historischen Verfall sowohl der klassisch-marxistisch-leninistischen, der klassisch-sozialdemokratischen und der (nie zur Form der Klassik entwickelten) grünen Parteien resultiert. Ich bin mir unsicher, ob die „Formel von Porto Alegre“ – gleicher Abstand der Zivilgesellschaft und der Bewegungen zu allen Parteien - angesichts dieser Entwicklung noch zu halten ist: ich persönlich habe als parteiloser Linker mit der LINKEN erheblich mehr Gemeinsamkeiten als mit bestimmten zivilgesellschaftlichen Organisationen, und ich habe selbstverständlich ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur LINKEN als zu allen anderen Parteien.

Was die Mobilisierung angeht, so hat es aus Rücksicht auf bestimmte NGOs und den BUND einige Verwerfungen im Verhältnis zur LINKEN gegeben. So muss die Frage offen bleiben, ob die gesamte Mobilisierung stärker geworden wäre, hätte das Bündnis dieser Partei eine prominentere Rolle zugestanden. Ich denke, dass man sich hier etwas Neues einfallen lassen muss – selbstverständlich in Abhängigkeit von der weiteren Entwicklung der LINKEN, und selbstverständlich in Anerkennung des Umstands, dass attac in sich selbst als breites, nicht nur Linke organisierendes Bündnis angelegt ist und das auch bleiben soll. Es bleibt der Umstand, dass sich im Erfolg der Mobilisierung und in der Gründung der LINKEN eine Verschiebung des politischen Felds nach links artikuliert, die attac strategisch zur Kenntnis nehmen muss.

Anmerkung: auch wenn die Medien ihren Teil zur Hysterisierung des Samstags beigetragen haben, so muss doch festgestellt werden, dass die Berichterstattung im Vorfeld sehr offen war und dass sich dann schon am Montag ein Umschwung vollzogen hat. Auch dies ist ein Ausdruck der Öffnung des politischen Feldes nach links, die sich übrigens auch in einer selbstbewussteren Positionierung liberaler Stimmen im Mainstream (Geissler, Baum) anzeigt.

10. Bleibt die Frage, wie attac diese Linksverschiebung anerkennen kann. Mein Vorschlag ist, dass attac am eigenen spezifischen Mandat und an der eigenen Geschichte prinzipiell festhält. Dem Mandat nach ist attac eine spektrenübergreifende globalisierungskritische „Volksbildungsbewegung“ aktivistischen Zuschnitts. Dies muss ausgebaut werden, z. B. (ein Vorschlag) durch eine Ergänzung der Sommerakademie durch regionale und lokale „Akademien“ kleineren Formats, natürlich auch durch eine Intensivierung des globalisierungskritischen Kampagnenaktivismus: für Globale Soziale Rechte, für Globale Soziale und Ökologische Gerechtigkeit, für die Verteidigung bzw. den Ausbau Öffentlicher Güter und in diesem Zusammenhang immer noch für die Tobin-Steuer… Historisch war attac selbst ein wichtiger Moment in der Linksverschiebung des politischen Feldes in Deutschland. Wenn attac auch keine linke Organisation ist und werden wird, so bestimmt sich darin dennoch das besondere Verhältnis, das attac zur Linken (und zur LINKEN) einnehmen sollte, meiner Einschätzung nach. Dazu gehört, dass attac anerkennt, zwar eine wichtige, doch zugleich nur eine, obendrein in sich vielfältige Stimme im Konzert der anti-neoliberalen Opposition zu sein.

Source: http://sandimgetriebe.attac.at/5562.html