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2007-03-25

Feindbild "Anarchist"

Wie die Organe der Staatsgewalt aus Gewaltfreien “Gewalttäter” machen

Das Schlagwort “Anarchist” wird seit seiner Entstehung im Jahre 1793 oft als Schmähbegriff für linke, politische GegnerInnen, als Synonym für “Chaot”, “Terrorist” und “Gewalttäter” benutzt. (1)

Auch heute noch weckt der Begriff “Anarchist” bei vielen Menschen Assoziationen vom schwarz bemäntelten Bombenwerfer. Dass tatsächliche AnarchistInnen nicht herrschen und nicht beherrscht werden wollen, dass sie nicht Chaos und Terror, sondern eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, sprich die Anarchie anstreben, das spielt dabei keine Rolle.

“Unter dem Deckmantel der Gewaltfreiheit”

So die fette Überschrift eines Verfassungsschutzartikels zum Castor-Widerstand, abgedruckt in der Deutsche(n) Polizei Nr. 5/2001. Auf drei Seiten wird in dieser bei den PolizeibeamtInnen in Deutschland weit verbreiteten Zeitung der Polizeigewerkschaft mit Hilfe von Verdrehungen der Boden bereitet für Repressionsmaßnahmen gegen GraswurzelrevolutionärInnen. Konkret wird versucht X-tausendmal quer, die gewaltfreie Kampagne für die sofortige Stillegung aller Atomanlagen, die Kurve Wustrow, Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion, die Graswurzelbewegung und ihr monatliches Sprachrohr graswurzelrevolution als “gewalttätig” zu diskreditieren. Gegen Jochen Stay, Sprecher von X-tausendmal quer und ehemaliger Koordinationsredakteur der graswurzelrevolution, werden schwere Geschütze aufgefahren. Der seit dem Castortransport im März 2001 von Polizeiführung, BILD und Focus unternommene Versuch Jochen zu einem “Gewaltbefürworter” und “Rädelsführer” der Anti-AKW-Bewegung zu stilisieren, erreicht mit diesem Artikel seinen vorläufigen Höhepunkt. Damit alle PolizistInnen in der BRD den angeblichen “Gewalttäter” sofort erkennen können, drucken Wolfgang Rösemann und Jesko Bock, die vermeintlichen (2) Autoren des Artikels, nicht nur eine Art Fahndungsfoto des Anarchisten ab. Untertitel: “In Gewahrsam genommen und für die Dauer des Castor-Transports aus dem Verkehr gezogen wurde Jochen Stay, Sprecher der ‘Initiative X-tausendmal quer’. Er hatte mehrfach zu Straftaten aufgerufen.”. Sie reißen bewusst Zitate aus dem Zusammenhang und stellen sie durch Kommentare in einen anderen Sinnzusammenhang. Da die Deutsche Polizei-Zeitung im Internet gelesen werden kann, wird an dieser Stelle auf eine ausführliche Wiedergabe des Inhalts verzichtet. Die schon angesichts des Titels zu erkennende Intention der Schreiber zeigt sich auch in diesem Zitat: “Als langjähriger Redakteur und Herausgeber der Zeitung ‘graswurzelrevolution’ (Organ des seit 1997 ruhenden Dachverbandes der Graswurzelbewegung, der anarchistischen ‘Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen’, FöGA) propagiert er ‘die Umwälzung von unten her’. Daraus resultiert eine prinzipielle Ablehnung aller politischen Organisationsformen, insbesondere der parlamentarischen Demokratie, da diese grundsätzlich auf Machtverhältnissen basieren. So bezeichnet sich Stay in einem Artikel in der ‘graswurzelrevolution’ Nr. 245 (Januar 2000) als ‘gestandener Antiparlamentarist’”

Eine basisdemokratische Organisationsform wäre nach dieser Staatsschutzlogik also “keine politische Organisationsform”.

Der begrenzte Horizont der Staatsschützer hat zur Folge, dass für sie eine Organisationsform von unten nicht denkbar ist. Dass die graswurzelrevolution keinen “Herausgeber” sondern viele gleichberechtigte MitherausgeberInnen hat, dass sieeit 1972 von einer außerparlamentarischen Bewegung getragen wird und basisdemokratisch organisiert ist, wird ausgeblendet.

Das gleiche gilt für die Tatsache, dass es keinen “Rädelsführer” bei X-tausendmal quer gab und gibt. Wäre X-tausendmal quer nicht ebenfalls basisdemokratisch organisiert, sondern von einem “Rädelsführer” geleitet, hätte es Ende März 2001 nicht diese effektiven Anti-Castor-Aktionen von X-tausendmal quer im Wendland gegeben, während gleichzeitig der angebliche “Rädelsführer” ohne jegliche Rechtsgrundlage im Knast saß (vgl. GWR 259).

Eine hierarchische Organisation (wie z.B. die PKK) lässt sich vielleicht bekämpfen, indem der “Rädelsführer” verhaftet wird. Ein Rhizom, ein Wurzelwerk wie X-tausendmal quer oder die Graswurzelbewegung lässt sich nicht so einfach bekämpfen. Wird eine “Wurzel” ausgerissen, sprießen sofort an anderer Stelle neue Graswurzeln.

Ist ein “gestandener Antiparlamentarier”, der gleichberechtigt mit vielen anderen AtomgegnerInnen gegen die drohende atomare Verstrahlung agiert, nicht vielleicht “demokratischer” als die Atomindustriellen und Politiker? Betreibt die Atomlobby nicht aus profit- und machtorientierten Gründen eine Atomstaatspolitik gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit?

Der noch länger als hunderttausend Jahre lang strahlende Atommüll bedroht diese und die kommenden Generationen. Ein Widerspruch zum Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Wird dieses im Grundgesetz genannte Recht von AnarchistInnen und AtomkraftgegnerInnen gebrochen oder von PolitikerInnen, die Atomkraftwerke noch für Jahrzehnte am Netz lassen wollen?

Während des Castor-Transports im März 2001 haben viele X-tausendmal quer-AktivistInnen und andere AtomgegnerInnen mit PolizistInnen diskutiert. Einige BeamtInnen konnten dabei zum Nachdenken gebracht werden, äußerten Kritik am Polizeieinsatz, Selbstzweifel und Sympathie für die gewaltfreien BlockiererInnen. Die Polizeiführung steht diesbezüglich unter Erklärungsdruck: Wie ist ein nicht selten brutales Vorgehen gegen gewaltfreie AktivistInnen bei Gewalt- und AtomkraftkritikerInnen auch innerhalb des Polizeiapparates zu rechtfertigen? Wie kann das für die Wasserwerfer- und Knüppeleinsätze notwenige Feindbild “gewalttätiger Demonstrant” bei den BeamtInnen aufrecht erhalten werden, wenn die vermeintlichen “Gewalttäter” auch für PolizistInnen leicht als gewaltfrei zu erkennen sind? So zum Beispiel:

“(…) Die Aussagen (Jochen Stays, Anm. d.A.) verdeutlichen die negative Grundeinstellung gegenüber dem Polizeieinsatz. Idealtypisch für Extremisten ist in diesem Zusammenhang, ein für die politische Agitation notwendiges Feindbild (hier: ‘Polizei als Büttel der Atommafia’) aufrecht zu erhalten. Mit ihrer Argumentation scheint die Kurve Wustrow bereits im Vorfeld die Verantwortung für mögliche gewalttätige Auseinandersetzungen auf die Polizei verlagern zu wollen, indem immer wieder betont wird, dass die Anti-Atom-Bewegung lediglich gewaltfreien Widerstand leisten werde, die Polizei hingegen Gewaltmittel einsetze.

Für den unbefangenen Leser des Artikels ist nicht erkennbar, dass mit dem Begriff Gewaltfreiheit im Zusammenhang mit den Protestaktionen militante Aktionsformen volle Akzeptanz finden." (Deutsche Polizei 5/2001)

Der Versuch der Deutsche(n) Polizei-Zeitung, den gewaltfreien Widerstand als “gewalttätig” zu diskreditieren, ist kein Einzelfall. Während gegen den Wendländer Jochen Stay wegen angeblicher “Rädelsführerschaft” und “Aufruf zu Straftaten” ermittelt wird, versuchen die Behörden in Süddeutschland auch dort den gewaltfreien Widerstand zu kriminalisieren. Gegen drei Graswurzelrevolutionäre aus Mannheim und Heidelberg wird wegen “Bildung einer terroristischen Vereinigung” (§ 129a) (3) ermittelt (vgl. GWR 255 und 256). Die drei gewaltfrei-libertären Atomkraftgegner hatten sich nachts in der Nähe der Castorstrecke bei Biblis aufgehalten. Einer von ihnen, seit Jahren Redakteur der graswurzelrevolution, wird nach Angaben seines Anwalts in seiner Polizeiakte als “Gewaltbereiter Autonomer der Anti-AKW-Bewegung” charakterisiert.

Auch das Titelbild der schon seit August 1999 vom Bundesamt für Verfassungsschutz verbreiteten Broschüre “Extremistische Bestrebungen im Internet” (siehe Abbildung auf dieser Seite) kann als Teil einer Diffamierungskampagne gegen die Graswurzelbewegung und ihr Organ gesehen werden (vgl. GWR 256). Im Vordergrund ist da direkt neben der Leitseite von “Adolf Hitler’s Hass Seiten” die Leitseite der graswurzelrevolution zu sehen. Das Symbol des nationalsozialistischen Terrors, die Hakenkreuzfahne findet sich auf zwei abgebildeten Computerbildschirmen direkt neben dem Symbol der graswurzelrevolution bzw. des libertären Antimilitarismus, dem zerbrochenen Gewehr auf schwarzem, fünfzackigem Stern. Auf den hinteren Bildschirmen sind die Leitseiten u.a. der “Hammerskins” und des “Hizbollah Central Press Office” zu erkennen. Hier wird neofaschistische Gewalt relativiert und die Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft demagogisch mit Neonazis gleichgesetzt!

In der Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 17. Mai 2001 wird unter dem Titel “Linksextremisten bei Castor-Tagen. Verfassungsschutz-Bericht erwähnt auch Initiative ‘X-tausendmal quer’” der jüngst vorgelegte Jahresbericht des Niedersächsischen Verfassungsschutzes zusammengefasst. Unter der Zwischenüberschrift “Ziel: Sympathie für Anarchisten” ist dort zu lesen:

“Mit Blick auf die Castor-Tage erwähnt der Verfassungsschutz auch die Graswurzelbewegung, die sich ‘ideologisch einem anarchistischen Freiheitsbegriff verpflichtet’ fühle. Dem jüngsten Castor-Transport sei diese Bewegung mit dem Versuch begegnet, eine breite Protestbewegung aufzubauen. Diese sollte über den bloßen Anlass hinaus Ansatzpunkte für die weiterführenden Gesellschaftsvorstellungen der Graswurzler eröffnen. Die Castor-Transporte, so der Verfassungsschutz, geben der Graswurzelbewegung die strategische Möglichkeit, durch permanenten Widerstand den Staat zu Handlungen zu provozieren, die seinen Zwangscharakter entlarven und die ihn deshalb bei immer mehr Menschen diskreditieren sollen. Die Aktionsformen wollten die Graswurzelaktivisten dabei so wählen, dass – wie es in einem Graswurzel-Blatt heißt – ‘die zunächst passiven Mehrheiten die anarchistische Minderheit neutral oder mit Sympathie betrachten’.”

Nicht zuletzt aufgrund der gewachsenen Akzeptanz, die direkte gewaltfreie Aktionen mittlerweile in der Bevölkerung haben, holt der Verfassungsschutz immer wieder sein staubiges Feindbild “Anarchist” aus der Mottenkiste heraus. Nach dem Verschwinden der RAF und diverser militanter Gruppen bauen die Organe der Staatsgewalt neue Feindbilder auf. Um ihren überdimensionalen Apparat rechtfertigen zu können wird z.B. eine “neue RAF” (vgl. Der Spiegel vom 14.05.2001) herbeigeredet. Gleichzeitig wird versucht den Gewaltbegriff zu verdrehen. Der gerade wegen der expliziten Gewaltfreiheit so erfolgreiche Widerstand von X-tausendmal quer wird als “gewalttätig” dargestellt, damit sich die Sympathie, die X-tausendmal quer bei vielen Menschen und Medien genießt, in eine Distanzierung von den angeblich “gewalttätigen”, “nur zum Schein gewaltfreien Anarchisten” verwandelt. (4) Es wird versucht die Akzeptanz für direkte gewaltfreie Aktionen zurückzuschrauben, indem gegen X-tausendmal quer, die Graswurzelbewegung und den Anarchismus gewettert wird.

Die taz, die sich in der Vergangenheit immer wieder mit Schlagzeilen wie z.B. “Anarchie in Liberia” und “Anarchie auf Haiti” an der Gleichsetzung des Jahrtausende alten Begriffs Anarchie (griechisch: ohne Herrschaft) mit Chaos und Gewalt beteiligt hat, druckte in ihrer Ausgabe vom 19./20. Mai ein lesenswertes Interview mit Jochen Stay ab. Dort heißt es u.a.:

“taz: Du schreibst für die ‘Graswurzelrevolution’. Würdest Du Dich als Anarchist bezeichnen?

Stay: Im Prinzip ja, aber nicht in erster Linie. Vorher bin ich Mensch, Vater, Anti-Atom-Aktivist, Autor und dann irgendwann auch Anarchist."

Vielleicht tragen solche Interviews dazu bei, dass das Bild “Anarchist = Verbrecher” aus den Köpfen vieler Leute verschwindet; dass erkannt wird, dass wir Libertären eben doch Menschen und nicht Monster sind; dass die Anti-Graswurzelbewegungspropaganda des Verfassungsschutzes ins Leere läuft.

Bernd Drücke (GWR-MS)

Anmerkungen

Eine erweiterte Fassung dieses Artikels ist als Presseerklärung in unseren news & infos zu finden.

(1) In der kommunikationswissenschaftlichen Arbeit “Anarchismus – ein Reizwort in der öffentlichen Meinung. Erörtert anhand der Verwendung der Anarchiebegriffe im ‘Spiegel’ und ‘Weltwoche’ in den Jahren 1968 und 1975” (Frankfurt/M. 1982) konnte für den Untersuchungsjahrgang 1975 festgestellt werden, dass die undifferenzierte Gleichsetzung von Anarchist und Terrorist, sowie die Verbindung von Anarchismus und Terrorismus weitgehend zum Standard gehört und von einer öffentlichen und “journalistischen Distanzierung” gesprochen werden muss. Über den ständigen öffentlichen Gebrauch abwertender Klischees in den Massenmedien würden sich die Begriffe Anarchist und Anarchismus zu Reizworten entwickeln, deren Gebrauch wiederum zur “Schaffung eines Reizklimas und zur Herbeiführung einer kollektiven Psychose” beitragen könne. Vgl. dazu: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998

(2) Ob es “Rösemann” und “Bock” gibt ist fraglich. Vermutlich benutzen die VSler Pseudonyme. “Ihr” Artikel ist offensichtlich das Ergebnis jahrelanger VS-Schnüffelarbeit.

(3) Seit Jahren fordern AnwältInnen und MenschenrechtsaktivistInnen die Abschaffung der zu Recht als “Schnüffelparagraphen” charakterisierten §§ 129, 129a, 111 und 130a StGB. Fast alle § 129-Verfahren werden früher oder später eingestellt. Solange ein solches, oft langjähriges Ermittlungsverfahren aber läuft, darf abgehört, bespitzelt und observiert werden. Das soll einschüchtern.

(4) “Wir führen keinen Krieg”, so Kanzler Schröder in seiner Erklärung zur Bombardierung Jugoslawiens. “Gewaltfreie sind Gewalttäter”, so die Verfassungsschützer. Atommüllager sind “Entsorgungsparks”… Orwell läßt grüßen.

[http://www.graswurzel.net/260/anarchist.shtml]


Unter dem Deckmantel der Gewaltfreiheit

Von Wolfgang Rösemann und Jesko Bock

Die linksextremistisch beeinflusste Kampagne “X-tausendmal quer” ist laut Selbstdarstellung in ihrer vor dem Castor-Transport 1997 erschienenen Flugschrift Teil der Initiative “Gewaltfrei und Ungehorsam gegen Castor”, in der verschiedene Aktionsgruppen aus dem Wendland und dem ganzen Bundesgebiet zusammenarbeiten.

Die Kampagne “X-tausendmal quer” beinhaltet die Aktionsformen “Gewaltfreiheit” und “Ziviler Ungehorsam”, wobei “Gewaltfreiheit” als aktives Prinzip verstanden werden muss. Wenngleich in Selbstdarstellungen der Gruppierung stets “Gewaltfreiheit” propagiert wird, so erfordert der Begriff eine engere Definition. Menschen verletzende Gewalt wird abgelehnt, Gewalt gegen Sachen in Form von Sachbeschädigungen, Sabotagehandlungen und Zerstörungen aber ausdrücklich in die Konzeption mit einbezogen, wenn diese als politisches Mittel nützlich erscheinen und vermittelbar sind, um die Kosten für die Atommülltransporte in eine politisch nicht mehr vertretbare Höhe zu treiben. Das Aktionskonzept von “X-tausendmal quer” ist in wesentlichen Punkten als die praktische Umsetzung der politischen Inhalte (Schwerpunkt-Thema “Ökologie”) sowie der Praxis (Aufrufe zu “gewaltfreien” Aktionen) der Graswurzelbewegung anzusehen.

Jochen Stay

Jochen Stay ist als Sprecher der Kampagne eine zentrale Person der AKW-Widerstandsbewegung. Er gilt als einer der Wortführer so genannter gewaltfreier Atomkraftgegner. Zahlreiche von ihm verfasste Artikel belegen die Akzeptanz und Befürwortung von Gewalt und militanten Aktionsformen. Bereits anlässlich der ersten Atommülltransporte ins Wendland agitierte Jochen Stay mit Aufrufen zu Gewalttaten. So sollten Aktionen gegen den Transport aus “intelligenten Gewaltmaßnahmen” bestehen. Er rechtfertigte die beabsichtigte Gewaltbereitschaft mit der Erklärung: “Wenn der Gesetzgeber sich gegen das Volk wendet, braucht das Volk Gesetze nicht zu befolgen.” (Stay in einem Vortrag zum Thema “Castor-Transport” im Friedensbildungswerk Köln am 14. September 1996)

Als langjähriger Redakteur und Herausgeber der Zeitung “graswurzelrevolution” (Organ des seit 1997 ruhenden Dachverbandes der Graswurzelbewegung, der anarchistischen “Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen”, FöGA) propagiert er die “Umwälzung von unten her”. Daraus resultiert eine prinzipielle Ablehnung aller politischen Organisationsformen, insbesondere der parlamentarischen Demokratie, da diese grundsätzlich auf Machtverhältnissen basieren. So bezeichnet sich Stay in einem Artikel in der “graswurzelrevolution” Nr. 245 (Januar 2000) als “gestandener Antiparlamentarier”. Weiter heißt es dort:

“Es gab seit einigen Jahrzehnten keine historische Situation hier zu Lande, die mehr Menschen davon überzeugen konnte, dass es durch Wahlen, Parlamentssitze und Regierungsbeteiligung nicht gelingt, die Gesellschaft zu verändern. Eigentlich Zeit für eine Werbekampagne in Sachen Anarchismus.” Dass Stay auch vor klandestinen Aktionen nicht zurückschreckt, ergibt sich schon aus seinen Äußerungen, die er 1994 in der Zeitschrift “anti atom aktuell” niedergeschrieben hatte. Es sei – so Stay – wichtig, dass es in der Anti-AKW-Bewegung “parallel offene und verdeckte Strukturen” geben könne.
So könnten “Leute, die ‚legal’ in einer Stadtteilinitiative mitarbeiten, gleichzeitig ‚illegal’ Anschläge gegen Büros von SpekulantInnen durchführen.”

Schon 1995 markierte Stay seinen politischen Standort in der taz (vom 2. Oktober); er propagierte dort die Abschaffung jedweder Herrschaft und präferierte eine anarchistische Gesellschaftsform.

“Graswurzelbewegung”

Die Graswurzelbewegung ist kein organisierter Personenzusammenschluss, sondern eine lose, Hierarchie ablehnende Verbindung von Personen mit dem gemeinsamen Ziel der “herrschaftsfreien Gesellschaft”.

“Graswurzelrevolution bezeichnet eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden” (Selbstdefinition der Graswurzelbewegung in jeder Ausgabe der Zeitschrift “graswurzelrevolution”).

Die Exponenten beziehungsweise Sprecher der “X-tausendmal quer”-Kampagne propagieren diese Graswurzelidee. Der “Zivile Ungehorsam” ist für die sich selbst als anarchistisch bezeichnende Graswurzelrevolution die Aktionsform gegen den demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland.

In Abgrenzung zu den militanten Aktionen der Autonomen, für die der Kampf gegen die Atomenergie Symbolcharakter für die zu bekämpfende staatliche Ordnung erfährt, reklamieren die Anhänger der Graswurzelbewegung einen reflektierten, an der Sache orientierten Widerstand gegen von ihnen als unhaltbar empfundene Missstände.

Agitation anlässlich der Wiederaufnahme der Nukleartransporte

Nach dem Konsensbeschluss der Bundesregierung war eine allgemeine Verunsicherung der Anti- AKW-Bewegung festzustellen. Dies zeigte sich zunächst in ihrer Unfähigkeit, größere Personengruppen für Aktionen zu mobilisieren. Der Energiekonsens wird von der Anti-AKW- Bewegung nicht als Atomausstieg, sondern als “staatlich garantierter Weiterbetrieb der Atomkraftwerke bis zu ihrem technischen Lebensende” bewertet.

Man müsse der “breiten Öffentlichkeit klarmachen …, dass das nicht der Ausstieg ist. (…) Wir sind letztendlich wieder die kleine radikale Minderheit, gegen eine Regierung, die den Menschen Lügen erzählt. (…) Wir müssen uns sozusagen den gesellschaftlichen Raum erst wieder schaffen.” (Jochen Stay in der “anti atom aktuell” Nr. 112) In einem Rundbrief 07199 der Kampagne “X-tausendmal quer” zum “Stand der Aktionsvorbereitung” heißt es, dass “auch weitergehende Aktionsformen wie zum Beispiel Ankett-Aktionen in eine gewaltfreie Sitzblockade” integriert werden sollen. Sachbeschädigungen wie “gewaltfreie Schienendemontagen” seien eine “geeignete Aktionsform gegen Castor-Transporte”.

Am 3. Dezember 2000 fand in Pisselberg, LK Lüchow-Dannenberg, ein mit einer Kundgebung verbundener Aktionstag statt, an dem sich circa 400 Personen beteiligten. Unter anderen hatte “X- tausendmal quer” für die Veranstaltung mobilisiert, in deren Anschluss sich circa 200 Teilnehmer auf der Gleisanlage vor der Brücke versammelten, wovon einige begannen, Schrauben zu lösen beziehungsweise Bahngleise zu unterhöhlen.

Mit näher rückendem Termin agitiert Jochen Stay zunehmend gegen die bevorstehenden Nukleartransporte. Unter anderem in anarchistisch beziehungsweise linksextremistisch beeinflussten Publikationen (“graswurzelrevolution”, “anti atom aktuell”) und im Internet ruft “X-tausendmal quer” zu Protestaktionen auf. Zu der Kampagne “Gewaltfreie Sitzblockade” des nächsten Castor-Transportes sollen nach Angaben der Initiatoren bundesweit bereits 4100 verbindliche Erklärungen von Personen, die Schienen und Straßen blockieren wollen, gesammelt worden sein. “Bei dem letzten Castor- Transport 1997 kamen lediglich 2500 Erklärungen zusammen”, so Jochen Stay gegenüber der taz in der Ausgabe vom 2. März 2001. Zur Gestaltung der Proteste erklärt Stay:

“Das Konzept für März sieht vor, nicht nur – wie in der Vergangenheit – die letzten 20 Kilometer zwischen Dannenberg und Gorleben zu besetzen, sondern auch die Bahnlinie von Lüneburg bis Dannenberg, also nochmals über 50 Kilometer zum Aktionsraum zu machen. Direkt hinter Lüneburg soll es eine große “X-tausendmal quer”-Sitzblockade geben. Hinzu kommen dann zahlreiche Aktionen entlang der Strecke." (Neues Deutschland, 7. Februar 2001)

Eine Veröffentlichung von “X-tausendmal quer” im Internet im Zusammenhang mit einem Aufruf zu den Protestaktionen verdeutlicht die anarchistische Grundhaltung der Kampagne: “X-tausende Menschen aus der ganzen Republik versammeln sich vor dem nächsten Castor- Transport an einem oder mehreren geeigneten Orten gewaltfrei und unbeirrbar auf der Transportstrecke. (…) Sie werden nicht freiwillig weichen. Gemeinsam stehen sie für eine andere Gesellschaft. Für eine bunte, lebendige Gesellschaft, die ohne menschenfeindliche Technik und Polizeistaat auskommen kann.”

In einer Beilage “X-tausendmal quer überall” zur taz vom 7. März 2001 werden unter der Rubrik “Hintergrund-Informationen” unter anderem die Aktionsformen “Gewaltfreie Aktion und Ziviler Ungehorsam” von “X-tausendmal quer” erläutert:

“Gewaltfreiheit wird häufig falsch verstanden als passives Stillhalten. Das Gegenteil ist der Fall. Gewaltfreiheit ist ein aktives Prinzip, das ermutigt und befähigt, dem Unrecht und der Gewalt gezielt entgegenzutreten und für alle Lösungen zu streiten, die für alle tragbar sind. Wichtige Elemente dabei sind die Gewaltfreie Aktion, der Zivile Ungehorsam und basisdemokratische Strukturen. Vielfach hat sich Gewaltfreiheit als effektives politisches Mittel erwiesen.”

Mit “Gewaltfreier Aktion” und “Zivilem Ungehorsam” werden die zentralen Aktionsformen der Graswurzelbewegung propagiert. Die “massenhafte direkte gewaltfreie Aktion als spezifische Waffe der AnarchistInnen” definiert die Graswurzelbewegung als Boykottaktion, massenhaften Bruch von Gesetzen, Sabotage, Massenstreiks und Kriegsdienstverweigerung zur Zersetzung der Machtzentren mit dem Ziel der Abschaffung aller Formen und Herrschaft.

In dem Artikel heißt es weiter:

“Eine der möglichen Formen Gewaltfreier Aktion ist die Sitzblockade. (…) Das Blockieren der Castor- Strecke ist nicht legal. Doch das Übertreten von Verboten ist angesichts des atomaren Restrisikos legitim und notwendig. Es ist ein bewusster und offener Akt des Zivilen Ungehorsams.”

Diese Aussage impliziert, dass außer Sitzblockaden auch andere Formen “Gewaltfreier Aktionen” möglich sind beziehungsweise akzeptiert werden. Legt man in diesem Zusammenhang die oben zitierte Definition der Graswurzelbewegung zu Grunde, bedeutet die Befürwortung aller Formen der “Gewaltfreien Aktion” auch die Akzeptanz von Sabotagehandlungen beziehungsweise Gewalt gegen Sachen.

Das Mobilisierungspotenzial von “X-tausendmal quer” war vor dem Castor-Transport kaum einzuschätzen. In der Vergangenheit rief die Kampagne stets gemeinsam mit anderen Gruppierungen zur Teilnahme an Protestaktionen auf, so dass eine konkrete Zuordnung der Teilnehmer nur schwer möglich war. Nach eigenen Angaben der Initiative hätten sich zwar circa 4000 Personen verbindlich bereit erklärt, an der propagierten Aktionsform der “Gewaltfreien Sitzblockade” im Zusammenhang mit Nukleartransporten teilzunehmen, was jedoch keinen seriösen Schluss auf das tatsächliche Mobilisierungspotenzial zulässt, insbesondere nicht auf die Beteiligung von Linksextremisten.

Die “Kurve Wustrow” ist eine Unterorganisation der “Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktionen e. V.” und ist dem Spektrum der “gewaltfreien” Anarchisten zuzuordnen. Sie engagiert sich im Protest gegen Nukleartransporte und Gentechnik und führt Trainingsprogramme über “gewaltfreien Widerstand” und “gewaltfreie Aktion” durch. In einem Aufruf in der Elbe-Jeetzel-Zeitung am 28. Februar 2001 zur Teilnahme an der “Nacht im Gleisbett” vom 3. auf den 4. März 2001 bietet die “Kurve Wustrow” an, am 3. Januar 2001 im Tagungshaus Carnap in Pisselberg “sich schon vor der eigentlichen Aktion (ab 13.00 Uhr) an einem Training in gewaltfreier Aktion” zu beteiligen.

Wiederholt rief die “Kurve Wustrow” zu Straftaten im Rahmen der Anti-AKW-Kampagne, insbesondere zum Widerstand gegen Castor-Transporte in das Zwischenlager Gorleben auf. Trotz des verbalen Bekenntnisses zur Gewaltfreiheit rechtfertigen die Mitglieder des Vereins Gewalt gegen Sachen. In einer Selbstdarstellung der “Kurve Wustrow” im Internet beschreibt der Verfasser zu dem Begriff “Gewaltfreie Aktion” :

“Gewaltfreiheit als handlungsbezogener Grundsatz geht von positiven Visionen einer gerechten Gesellschaft aus. Bei gewaltfreier Aktion bestimmt das Ziel die Mittel.”

In einem Artikel der Elbe-Jeetzel Zeitung am 23. Februar 2001 agitiert die Kurve Wustrow gegen das Konzept der Polizei, anlässlich der Nukleartransporte Konfliktmanager einzusetzen. Das Konzept “… solle nur im Vorfeld sicherstellen, dass ein durch hässliche Gewaltszenen angeschlagenes Bild der Polizei in der Öffentlichkeit in ein akzeptables Licht gerückt werde. (…) Die Polizei sei nur zum Anschein an einer gütlichen Regelung des Konfliktes bereit, der gewaltfreie Widerstand der Anti-Atom- Bewegung werde dann doch diskreditiert. (…) Die Polizei werde zudem von ihrem Auftrag her auch gegen gewaltfreien Widerstand die ihr zur Verfügung stehenden Gewaltmittel einsetzen.”

Im selben Zusammenhang äußert sich Jochen Stay in der Elbe-Jeetzel Zeitung am 1. März 2001 zu den Verletzungen von Polizeibeamten anlässlich der Atommülltransporte 1996: “… eine einzige Journalistin habe damals recherchiert, wie die Verletzungen der Polizeibeamten zustande kamen. Drei Beamte wurden von Polizeihunden gebissen, andere stolperten beim Aussteigen aus dem Auto, andere erlitten Schwächeanfälle wegen Übermüdung. Niemand wurde durch das Einwirken von Demonstranten verletzt.”

Die Aussagen verdeutlichen die negative Grundeinstellung gegenüber dem Polizeieinsatz. Idealtypisch für Extremisten ist in diesem Zusammenhang, ein für die politische Agitation notwendiges Feindbild (hier: “Polizei als Büttel der Atommafia”) aufrecht zu erhalten. Mit ihrer Argumentation scheint die Kurve Wustrow bereits im Vorfeld die Verantwortung für mögliche gewalttätige Auseinandersetzungen auf die Polizei verlagern zu wollen, indem immer wieder betont wird, dass die Anti-Atom-Bewegung lediglich gewaltfreien Widerstand leisten werde, die Polizei hingegen Gewaltmittel einsetze.

Für den unbefangenen Leser des Artikels ist nicht erkennbar, dass mit dem Begriff Gewaltfreiheit im Zusammenhang mit den Protestaktionen militante Aktionsformen volle Akzeptanz finden.

(aus DEUTSCHE POLIZEI 5/2001)