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2007-05-31

sueddeutsche: Weltweiter Stacheldraht: Weh dem, der Zäune zieht

Heiligendamm ist nur die Schaumkrone einer neuen globalen Welle aus Stacheldraht. Eine Phänomenologie des Zauns

Von Burkhard Müller

Es war noch nicht lang her, dass die Berliner Mauer gefallen war, zwei oder drei Wochen vielleicht. Wir beschlossen, einen Ausflug an die nun hinfällige innerdeutsche Grenze zu machen. Die stand nach außen noch in voller einschüchternder Pracht, gestaffelt mit Zäunen, Todesstreifen und allem was dazugehört - mit einem Unterschied: Man konnte jetzt direkt heran. Ganz trauten wir dem Frieden nicht, als wir mit dem Auto auf den zwei schmalen Betonspuren den Zaun entlangfuhren; aber hier, auf dem Patrouillenweg selbst, so dachten wir, wäre keine explodierende Mine zu befürchten.

Die Anlagen waren noch bemannt. An einem Wachturm hielten wir und stiegen aus, und der Posten kam herunter. Keiner wusste so recht, wie er sich in dieser neuen Lage verhalten sollte. Zögernd kamen wir doch ins Gespräch. Es drehte sich um die Grenze. Aber ,,Grenze‘‘ war nicht der Begriff, den der Wachsoldat verwendete; er sprach von der ,,Küste‘‘.

Ein merkwürdiges Wort, diese Küste! Es muss einmal der Einfall eines witzigen Kopfs gewesen sein; doch aller Witz war lang daraus verdunstet, und zurückgeblieben allein die eminente Brauchbarkeit der Prägung. Der Dienst des Wachpostens kann kein leichter gewesen sein, sein ganzes Dasein bezog sich allein auf die scharfe Linie im Gelände, Schneise und Schneide in einem; und während wir im Westen sie nach Herzenslust schmähen durften, musste er sie als sein eigenes Werk erkennen und rechtfertigen.

Hier sprang die Metapher ein. Wer an der Meeresküste steht, kommt auch nicht weiter, aber er sieht keinen Grund, dagegen aufzubegehren. Im Gegenteil, er hat seinen Urlaub so geplant, dass er genau hier stehen kann. Der Todesstreifen, von der täglich durchgezogenen Egge blankgespült wie von einer Brandung, war diesem Mann der Strand, und sein Meer die vom Thüringischen wenig verändert ins Fränkische fortgehende Landschaft mit ihren kleinen Wäldern und spitzen Kirchtürmen. Auf seinem Hochsitz durfte er sich fühlen wie ein Bademeister und Lebensretter auf seinem Ausguck: in tätigem Einklang mit der Natur.

So geht es wohl allen, die Zäune bauen, unterhalten, bemannen. Sie verwickeln sich in einen Akt der Gewalt; und müssen sich mit einem zweiten gewaltsamen Akt selbst dazu bringen, diesen Sachverhalt, sichtbar und unmissverständlich wie weniges sonst, für sich selbst zu etwas Normalem und geradezu Unsichtbarem, zu etwas sozusagen Natürlichem zu machen.

Die Rede ist hier nicht vom einverständlichen Zaun der Nachbarschaft - ,,Gute Zäune, gute Nachbarn‘‘, heißt es in Amerika, und es ist dort ein Ritual, dass die beiden Anrainer gemeinsam im Frühling ihre Grenze begehen und miteinander die im Winter schadhaft gewordenen Stellen flicken. Selbst hierin kann man die sublimierende Anstrengung erkennen, welche eine ursprüngliche Aggression in eine Geste des Friedens verwandelt, ähnlich der nach oben gekehrten Handfläche, die zeigen soll, dass man keine Waffe hält. Doch geht es hier um den langen Zaun, den Zaun, mit dem sich mehr als das kleinteilige Grundeigentum, mit dem sich die Souveränität bewehrt.

Bedrohte Drohung

Der spezielle Zaun, den wir damals besichtigen gegangen waren, ist verschwunden, der Streifen, wo er lief, nur noch mit Mühe auszumachen. Das ist untypisch. Die Zäune nehmen zu, das ist ein globaler Trend, ja man muss kein Zyniker sein, um zu sagen: ein Trend der Globalisierung. 60 Millionen Euro hat die EU für den Zaun ausgegeben, der die afrikanischen Migranten von der spanischen Exklave Ceuta in Nordmarokko fernhalten soll. Er ist acht Meter hoch und als Zwilling angelegt: Wer den ersten Zaun überwinden konnte, hat vermutlich genügend Aufmerksamkeit auf sich gezogen, dass man ihn am zweiten fassen kann. Auch für stärkere Anstürme ist er gerüstet; als vorigen Oktober mehrere Tausend Flüchtlinge ihn niederwalzen wollten, wurden acht von ihnen erschossen. Das erledigte die marokkanische Polizei, und wiederum klingt es zynisch und ist es nicht, zu sagen: für uns.

Auf welcher Grundlage - fragt nicht ohne Recht, aber auch nicht ohne Heuchelei die Regierung des Staates Israel - kritisiert die Europäische Union, die einen solchen Zaun errichtet, den israelischen Schutzwall gegen die Palästinenser? Wer immer einen Zaun baut, kann auf einen anderen zeigen, der es auch tut.

Diese Zäune sollen Schutz gewähren, bedürfen des Schutzes aber selbst. Kein Grenzzaun, der nicht durch mehrere, oft alle der folgenden Maßnahmen unterstützt würde: Stacheldraht, Videokameras, Selbstschussanlagen, Tretminen, Patrouillen mit abgestuftem Verhaft- und Schießbefehl. Darum sind sie auch alle so teuer. Sechzig Millionen waren im Grund gar nicht viel. Dreihundert Millionen wollen Malaysia und Thailand für ihren Zaun ausgeben. Er soll einen doppelten Zweck erfüllen: Malaysia will illegale Wanderarbeiter draußenhalten, Thailand muslimische Terroristen, die sich sonst absetzen könnten, zwingen, drinnenzubleiben. Dies ist das Gegenteil der Absichten von Saudi-Arabien, das zwölf Milliarden Dollar für einen Zaun zum Irak bereitgestellt hat. Dass sich viele saudische Fundamentalisten aus dem Königreich in den Irak abgesetzt haben, um dort eine militärische Ausbildung zu durchlaufen, lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Verhindern lässt sich, dass sie heimkommen - so wenigstens hofft man.

Überhaupt wird man bei diesen langen Zäunen immer feststellen, dass die Begriffe von draußen und drinnen anfangen sich zu verwirren; wie die Kippbilder in der Gestaltpsychologie tendieren sie dazu, umzuspringen. Mit ihnen springen die Begriffe der Sicherheit und der Freiheit. Wo bisher einfach Landschaft war, gibt man mit dem Bau des Zauns seinem Gefühl Ausdruck, bedroht zu werden. Dieser Ausdruck seinerseits kann gar nicht anders, als Drohung zu sein. Und wer den anderen ausschließt, schließt sich selber ein; da drinnen mag er Garantien für alle möglichen Güter empfangen, die er dem da draußen vorenthält, aber ein Gut wird ihm gewiss zu einem knapperen als dem sonst in jeder Hinsicht benachteiligten Fremdling: Platz.

Mit Kosten von zwölf Milliarden Dollar, wie gesagt, rechnet Saudi-Arabien für seinen Zaun. Das ist immer noch eine geringe Summe, verglichen mit den 49 Milliarden Dollar, die der Zaun zwischen den USA und Mexiko kosten soll. Dieser Zaun bleibt vorerst Stückwerk. Nach seiner Fertigstellung würde er 2000 Meilen messen. Die ,,Minutemen‘‘, eine Art patriotischer Verein, haben auf eigene Faust ein Teilstück von siebeneinhalb Meilen realisiert. Dann gingen ihnen Geld und Puste aus. Siebeneinhalb Meilen von zweitausend: Das ist noch hübscher als der Witz von dem Ingenieur, der stolz verkündet, das erste Viertel der neuen Brücke könne nunmehr dem Verkehr übergeben werden. Ein Zaun - und erst recht seine Verschärfungsform, die Mauer - ist darauf angewiesen, dass er absolut dicht schließt; schon das kleinste Schlupfloch macht ihn unwirksam, wie einen Plastikeimer, dessen Boden man durchbohrt hat. Da hilft es nichts, dass der weit überwiegende Rest hält; der Eimer läuft doch aus, und man kann ihn eigentlich nur noch wegwerfen. Zäune und Mauern sind aus festem, die Menschenströme aber aus flüssigem Stoff gemacht, damit ist die Lage im Grundsätzlichen entschieden. Schon der erste eingerammte Pfosten steht im Zeichen der Vergeblichkeit.

Draußen oder drinnen?

Menschen sind immerhin in der Lage, im Zaun ein Symbol der Abwehr zu erkennen; Tiere nicht. Vergeblichster aller Zäune war der Rabbit Proof Fence, der kaninchensichere Zaun, mit dem Australien vor hundert Jahren versuchte, die explosionsartige Ausbreitung dieser unerwünschten Immigranten aus Europa einzudämmen, welche sich innerhalb weniger Jahrzehnte von vierundzwanzig eingeführten Exemplaren auf etliche Milliarden vermehrt hatten. Der Osten des Kontinents war schon überflutet, der Westen noch nicht, und so begann man mit dem Bau eines 1800 Kilometer langen Zauns von Norden nach Süden.

Trotz ständiger Wartung fielen die Holzpfosten Buschfeuern zum Opfer, oder Sandstürme legten gangbare Rampen an; vor allem aber war es für die Kaninchen kein Problem, den Zaun, der nur acht Zoll tief in den Boden reichte, zu unterwandern in des Worts buchstäblichem Sinn. Mitten im Bau wurde die Trasse achtzig Kilometer nach Westen verlegt, weil die Kaninchen nämlich inzwischen nachgezogen hatten. Auch das half nicht; noch während der Konstruktion häuften sich die Klagen, dass mehr Kaninchen drinnen als draußen zu finden seien. Oder mehr draußen als drinnen?

Da ist er wieder, der hinterlistige Zaungast der Dialektik. Im Augenblick, als der Zaun beendet war, hatten alle dessen völlige Nutzlosigkeit begriffen. Heute stehen immer noch elfhundert Kilometer davon, er soll jetzt die Wanderungen der Emus regulieren helfen, ein klarer funktionaler Abstieg. In Wahrheit aber mag man ihn wohl deshalb nicht ganz niederreißen, weil die Menschheit sich eine gewisse Pietät für ihre babylonischen Projekte auch nach deren Scheitern bewahrt.

Zäune und Mauern, so weit der Blick über den Globus schweift. Zäune ziehen Syrien und die Türkei gegeneinander; Zäune und Mauern ziehen die Amerikaner im Innern des Irak, um die verfeindeten Sekten zu trennen (die sich sofort im gemeinsamen Hass auf den Zaun verbinden), und an der irakischen Außengrenze gegen Iran; einen Zaun zieht Iran gegen Pakistan. Pakistan zieht einen Zaun, der einmal zwölfhundert Kilometer lang sein soll, an der Grenze nach Afghanistan, durch die unzugänglichste Grenzregion der Erde; angeblich reißen die Nomaden und die Taliban davon jede Woche je so viel ein, wie gebaut wird, eine unendliche Geschichte.

Seinerseits führt Pakistan Klage gegen den Zaun, den Indien im Kaschmir zur pakistanischen Seite hin anlegt. Durchaus einverstanden mit dem neuen indischen Zaun an seiner Grenze zeigt sich dagegen Birma, während es wegen des Zauns, der zwischen Birma und Thailand entsteht, wiederum Verdruss gibt. Eine lückenlose Kette, sozusagen ein Zaun aus Zäunen, durchzieht den asiatischen Kontinent.

Zäune saugen ihr Hinterland aus. Zwei Millionen Soldaten stehen zu beiden Seiten des Zauns, der auf einer Länge von 250 Kilometern die koreanische Halbinsel durchschneidet. Die DDR, so ließe sich mit geringer Übertreibung sagen, fiel ihrem Zaun zum Opfer - dem immer weniger zu betäubenden Bewusstsein davon, dass er da war und was das hieß; aber auch dem ungeheuren materiellen Aufwand, den das Land sich gerade in dem Maß nicht ersparen durfte, wie es darüber verarmte. Am Ende war die DDR geradezu auf ihren Zaun eingeschrumpft.

Ähnlich ist der Fall beim G-8-Gipfel in Heiligendamm, noch bevor er angefangen hat. Die Bildberichterstattung konzentriert sich ganz auf diesen Zaun. Die Diskussion dreht sich darum, wer wie nah herandarf und mit welchen Mitteln man ihn gebenenfalls daran hindern soll, noch näherzukommen. Wir lassen uns nicht von Gewalttätern provozieren, darum brauchen wir den Zaun! rufen die auf der einen Seite, während es auf der anderen Seite tönt: Wir führen keinerlei Gewalt im Schilde, die wahren Gewalttäter seid ihr, schaut euch nur mal euren Zaun an! Was beide Seiten sonst noch wollen könnten, tritt in den Hintergrund. So bleibt der Zaun, was er immer ist: ein überaus deutlicher zeichenhafter Akt, mit dem Gewalt sich verleugnet und manifestiert.

(SZ vom 31.5.2007)

[http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/430/116314/]