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2007-06-21

junge welt: Terrain gewinnen. Aber wie?

Statt sich Sorgen um die Polizeiverpflegung zu machen, muß die Linke ihre Kräfte bündeln. Plebiszite können soziale Bewegungen und eine ernsthafte Theoriearbeit nicht ersetzen

Von Thomas Wagner

Ich glaube, daß ab und zu ein kleiner Aufstand sein Gutes hat, er ist in der Politik genauso nötig wie ein Gewitter in der Natur.« Diese Äußerung stammt nicht aus einem aktuellen Flugblatt der Autonomen, sondern aus einem Brief, den der Gesandte der US-Regierung und spätere Präsident Thomas Jefferson unter dem Eindruck eines blutigen Bürgeraufstandes gegen die US-Regierung seinem Freund James Madison am 30. Januar 1789 aus dem noch vorrevolutionären Paris in die amerikanische Heimat schickte. Gemessen daran, klingen Jürgen Elsässers jüngste Bemerkungen zur Gewaltfrage beinahe wie Verlautbarungen eines Pressesprechers der Polizeigewerkschaft. Kein Wort verliert er über die brutal zusammengeschlagenen, von Wasserwerfern und Tränengas verletzten Opfer der Staatsgewalt. Statt dessen wirft er den Demonstranten vor, nicht mittels gemeinsamer Picknicke mit den waffenstarrenden Knüppelgarden fraternisiert zu haben. Wird Elsässer demnächst als Freund und Helfer beispringen, wenn es bei Christiansen mal wieder um die Frage geht, ob es die »innere Sicherheit« gebiete, mit Gummimunition auf Demonstranten zu schießen?

Unterdessen berichten mittlerweile auch die bürgerlichen Medien von grotesk nach oben frisierten Verletztenzahlen und Gewaltprovokateuren im Staatssold. Die Proteste gegen den G-8-Gipfel sind durch Steinwürfe von Autonomen und V-Leuten nicht mehr diskreditiert als vor dem politischen Großereignis. In der Schweizer Presse sind die Aktionen in Heiligendamm und Rostock sogar als großer Erfolg, gar als Neuanfang für die Bewegungslinke in Deutschland bewertet worden: »Nach jahrelangen Streitereien sind jetzt offenbar immer mehr AktivistInnen bereit, sich an einer breiteren Bewegung zu beteiligen, die auf radikale Inhalte jedoch nicht verzichtet.« (Woz, 14.6.2007) Dr. Seltsam mag sich etwas voreilig über das erste Gefecht der Weltrevolution freuen, bei dem es seiner Meinung nach ernst wurde. Doch eines ist klar: Zehntausende Aktivisten aus ganz verschiedenen politischen Gruppen sind mit neuem Mut von ihrem Ostseetrip zurückgekehrt. Viele haben zum ersten Mal ihr politisches Grundrecht ausgeübt und berichten heute ihren Freunden, Kollegen und ihren Familien aus erster Hand von dem oft erfolgreichen Katz-und-Maus-Spiel mit der brutal zuschlagenden Staatsgewalt, von eingeschleusten Provokateuren, den Käfigen der Gefangenensammelstellen, der ständigen Überwachung und dem Lärmterror durch unablässig kreisende Militärhubschrauber.
Vorbild Venezuela
Daß in solchen kollektiven Widerstandserfahrungen von jungen Kommunisten, Attacies, Christen, Naturschützern, Pazifisten, Gewerkschaftern und Autonomen der Grundstein einer künftig erfolgreichen Bewegungspolitik gelegt sein mag, kommt Elsässer nicht in den Sinn. Dabei beginnt mit dem Engagement für die Umwelt, gegen Rassismus, Faschismus oder andere Einzelthemen nach wie vor für eine nicht zu unterschätzende Zahl von Leuten der Einstieg in linke Bewegungen und Organisationen. Auf diesem Wege lernen sie, ökonomische Interessen und Herrschaftszusammenhänge zu erkennen und mit anderen solidarisch für gemeinsame Ziele zu kämpfen. Elsässer hingegen mäkelt an der aus seiner Sicht geringen Beteiligung herum und glaubt, die Anliegen und Interessen von Minderheiten, sprich: Ökologie, Geschlechterfragen, Kultur usw. gehörten aus einer erfolgsträchtigen linken Strategie ausgeklammert, da sich damit die Stimmen der »Malocher« nicht gewinnen ließen: »Die Linke kann sich nicht auf Events für Minderheiten kaprizieren, wenn sie die Macht im Staat erobern will – dazu braucht sie die Bevölkerungsmehrheit.« Die Aufgabe besteht jedoch nicht darin, die vielen Themen und Perspektiven linker Kämpfe auf vermeintliche Basics zu reduzieren, sondern darin, die Vielfalt politikfähig zu bündeln und in der Vielfalt das Gemeinsame herauszuarbeiten. Daß sich dafür die marxistische Denktradition, insbesondere der hegemonietheoretische Ansatz von Gramsci, besonders eignet, scheint mir auf der Hand zu liegen.

Nicht um den Ausschluß von sogenannten Nebenwidersprüchen und ihren Protagonisten darf es gehen, sondern um die kollektive Ausarbeitung einer kohärenten gemeinsamen Perspektive, mit der die Neoliberalen zurückgedrängt und für antikapitalistische Positionen Terrain gewonnen wird. Auch der von Elsässer als Königsweg linker Machteroberung vorgeschlagene Weg einer konsequent plebiszitär ausgerichteten Politik kann auf Dauer nur dann eine emanzipatorische Wirkung entfalten, wenn deren Ziele von einer breiten und vielfältigen Basisbewegung, inklusive eigener Medien, Kulturinitiativen, Infoläden, Stadtteilprojekte und dergleichen mehr getragen, gefördert und im Bewußtsein immer größerer politisch aktiver Teile der Bevölkerung verankert werden. Gerade hierbei kann von Venezuela gelernt werden. Die sozialen Bewegungen haben durchgesetzt, daß der von Elsässer so geschmähte Kampf für Minderheitenrechte ganz oben auf der Agenda der sozialistischen Umgestaltung steht. ­Dario Azzellini hat anschaulich beschrieben, wie »Umweltaktivisten, Frauen, Migranten, Sex-Arbeiterinnen, Behinderte, Indígenas, Schwarze, Bauern, Arbeiter, Schwule und Lesben usw. mit eigenen Organisationen« den bolivarischen Prozeß voranbringen. Mit der Verbindung von Plebisziten und einer Chávez-freundlichen Armee, wie es Elsässer suggeriert, ist das Fortschreiten Venezuelas zum Sozialismus jedenfalls mitnichten hinreichend erklärt.
Freiheit durch Sozialismus
Ich schätze Elsässer als kompromißlosen Kritiker imperialer Angriffskriege und der US-Besatzungspolitik im Irak und Afghanistan. Zu Recht geißelt er die Ideologie amerikanischer Neocons und ihrer hiesigen Nachbeter als mörderische Weltkriegsbereitschaft, prangert die vom Großkapital betriebene Zerstörung demokratischer Entscheidungsstrukturen in der EU an und entlarvt die herrschende Islamophobie als neue Wahnideologie. Zutreffend seine Beobachtung, daß die Strategie einer bestimmten Sorte Exlinker im heutigen Establishment mit Hilfe einer politisch entschärften Minderheitenpolitik die Entsolidarisierung der Gesellschaft und die Zerstörung jeder Form von Kollektivität vorantreibt. Doch reicht das hin, deshalb potentielle Trägergruppen einer linken Gegenmacht als Randgruppen pauschal beiseite zu schieben? Auf gar keinen Fall!

Ohne Not überläßt Elsässer wichtige Kampffelder dem politischen Gegner und gerät damit selbst in die Gefahr, der neoliberalen Variante der altbekannten Strategie des »Teile und herrsche« unwillkürlich Schützenhilfe zu leisten. Die Geschichte der Linken in der BRD hat sich seit dem von Dr. Seltsam eindrücklich geschilderten Aufbruch von 1968 als eine mal engere, mal losere Kooperation von Bewegungen gezeigt, die jedoch durch hausgemachte Kämpfe und Gegenstrategien der Herrschenden zunehmend zerrüttet wurden. Emanzipatorische Impulse gingen von Arbeiterkämpfen, der Lesben- und Schwulenbewegung, von der Antifa, von Studenten aus und wurden von Popkultur und Massenmedien vermittelt – wie widersprüchlich das auch immer geschah. Die Herrschenden lösten einzelne Fäden aus dieser Widerstandskultur heraus und verstanden es, einstmals von links besetzte Begriffe wie Kreativität, Selbstbestimmung und Selbstorganisation in den ökonomischen Strukturwandel und in liberalkonservative Hegemoniekonzepte einzubinden. Nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Gegenmacht hatten sie dabei ein noch leichteres Spiel. Eine ganze Legion Intellektueller gibt sich alle Mühe, den »Sozialstaat« durch eine prekarisierte »Kulturgesellschaft« zu ersetzen, die einstmals subversive Schwulen- und Lesbenszene in eine kommerzielle Eventkultur zu überführen und den Feminismus in eine Selbstbehauptungsstrategie für bürgerliche Karrierefrauen umzumünzen. Und was tut Elsässer unterdessen? Während die Neoliberalen nichts unversucht lassen, geschlechterpolitische Themen zu vereinnahmen und den Kampf gegen Kernenergie und Klimawandel als neuen Totalitarismus zu brandmarken, wettert er gegen »Ökologisten«, phantasiert sich in die Rolle des Großen Vorsitzenden Mao und will die übriggebliebenen linken Intellektuellen zur körperlichen und ideologischen Erziehung aufs Land verschicken (siehe jW-Literaturbeilage vom 6.6.2007). Der grundrichtige Vorschlag Chantal Mouffes, die Anliegen von Arbeitern, Schwarzen, Migranten und Feministinnen in den heutigen Kämpfen auf intelligente Weise miteinander zu verbinden, ist für Elsässer nicht anders vorstellbar denn als »ellenlanger Spiegelstrichkatalog«, wie er ihn aus Flugblättern der Autonomen zu kennen glaubt. Wie borniert darf linke Polemik eigentlich sein?

Oskar Lafontaine hat auf dem Gründungsparteitag der Partei Die Linke schon mal vorgemacht, wie der Kampf um die Hegemonie von links eröffnet werden kann. Nachdem sich die FDP mit der reichlich angestaubten Parole »Freiheit statt Sozialismus« bewaffnet hatte und Gysi dem ein unentschiedenes »Freiheit und Sozialismus« entgegenhielt, trumpfte Lafontaine mit einem Slogan auf, der auch inhaltlich nach vorne weist: »Freiheit durch Sozialismus«.

[http://www.jungewelt.de/2007/06-21/021.php]