Überwachungsstaat

german-foreign-policy 10.12.2006
BERLIN
(Eigener Bericht) - Berliner Regierungsstellen bestätigen den zunehmenden Bruch des Brief- und Postgeheimnisses zur Überwachung und Ausforschung potentieller Kritiker. Wie das Bundesinnenministerium mitteilt, wurde die Zusammenarbeit zwischen den Zollbehörden und dem deutschen Inlandsgeheimdienst zum Zweck der Postkontrolle "intensiviert". Die Rechtsgrundlage hierfür, das erst vor fünf Jahren vom Bundestag bestätigte "Verbringungsverbotsgesetz", wird in Zukunft durch die vorsorgliche Speicherung der Verbindungsdaten aller Telefon- und Internetnutzer ergänzt. Um die globale militärische Expansion abzusichern, hat das Parlament jetzt auch die sogenannte "Anti-Terror-Datei" gebilligt, die sowohl Angaben über "Terrorverdächtige" als auch über deren Kontaktpersonen enthalten wird; die gesammelten Daten sollen ab März 2007 Polizeibehörden sowie Geheimdiensten uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Die Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen werden von der Forderung flankiert, unter Folter erpresste Informationen für die Strafverfolgung zu nutzen. Bürgerrechtsaktivisten befürchten einen weitreichenden Staatsumbau nach autoritärem Muster und haben Widerstand angekündigt: Eine gegen die "Vorratsdatenspeicherung" gerichtete Sammelklage vor dem Bundesverfassungsgericht wird mittlerweile von mehr als 6.000 Bundesbürgern unterstützt.

6.000 Klagen
Wie der "Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung" mitteilt, setzen sich "von Handwerkern bis Professoren (...) Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen" gegen das verfassungswidrige Vorhaben der vorsorglichen Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten zur Wehr. Mittlerweile ist der Kreis der Beschwerdeführer auf mehr als 6.000 Personen angewachsen, unter ihnen der Bielefelder Rechtsprofessor Christoph Gusy, der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Rolf Gössner, der Europaabgeordnete Tobias Pflüger, die Bundestagsabgeordnete Silke Stokar und die Bremer Strafrechtsprofessorin Edda Weßlau.[1]

Bewegungsprofile
Nach dem Willen des Bundesjustizministeriums sollen Telekommunikationsanbieter ab Mitte nächsten Jahres dazu verpflichtet sein, über einen Zeitraum von sechs Monaten hinweg zu speichern, wer mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden hat. Bei Handy-Telefonaten und SMS soll zudem der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten werden; anonyme E-Mail-Konten und Anonymisierungsdienste sollen verboten werden. Wie die Beschwerdeführer erklären, können mit Hilfe der gespeicherten Daten Bewegungsprofile erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden. Auch Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation, auf persönliche Interessen und die Lebenssituation der Kommunizierenden seien möglich, heißt es. Die Gegner der "Vorratsdatenspeicherung" warnen davor, dass Informanten, Ratsuchende oder Hilfsbedürftige aus Furcht vor einem Bekanntwerden ihrer Kontakte in Zukunft davor zurückschrecken könnten, sich an Journalisten, Anwälte oder Beratungsstellen zu wenden. Wesentliche Grund- und Bürgerrechte wie der Informantenschutz, das Anwalts- und das Arztgeheimnis würden auf diese Weise unterlaufen.[2]

Kontaktpersonen
Annähernd zeitgleich mit der Verpflichtung der Telekommunikationsdienstleister zur präventiven Speicherung ihrer Kundendaten wird ab März 2007 beim Bundeskriminalamt (BKA) eine "Anti-Terror-Datei" eingerichtet, auf die sowohl Polizeibehörden als auch Geheimdienste Zugriff haben werden. Geplant ist nicht nur die Erfassung von "Grunddaten" des Terrorismus Verdächtiger (Name, Alter, Geschlecht, Wohnort und Religionszugehörigkeit), sondern auch die Speicherung von Telefon- und Bankverbindungen, Fahr- und Flugerlaubnissen oder besuchten Orten. Ins Visier der Fahnder geraten außerdem nicht näher definierte "Kontaktpersonen" der Terrorverdächtigen - ganz gleich, ob es sich dabei um deren Vermieter, Arbeitgeber oder die Besitzer von ihnen besuchter Gaststätten oder Geschäfte handelt.[3]

Postkontrolle
Bereits jetzt wird der Postverkehr der Bundesbürger flächendeckend kontrolliert. Wie das "Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote" vom 24. Mai 1961 vorschreibt, sind die "Unternehmen in Nachfolge der Deutschen Bundespost" gehalten, alle Sendungen, bei denen der Verdacht besteht, dass ihre Einfuhr oder Verbreitung aus Gründen des "Staatsschutzes" unerwünscht sei, den Hauptzollämtern vorzulegen, von wo sie dann an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergeleitet werden. Lakonisch heißt es im Gesetzestext weiter, damit werde ohne weitere Begründung das von der deutschen Verfassung garantierte Brief- und Postgeheimnis "eingeschränkt".[4] Die Gültigkeit des Gesetzes wurde vom deutschen Parlament im Dezember 2001 einstimmig bestätigt.

Geheim
Wie der Pressesprecher der Deutschen Post AG, Dirk Klasen, mitteilt, gibt es über die kontrollierten Sendungen keine Aufzeichnungen; der gesamte Vorgang sei eine "interne Geschichte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist".[5] Auch über den Umfang der Postkontrolle schweigen sich die zuständigen Behörden aus. Wie die Pressestelle des Bundesinnenministeriums dem Journalisten Thomas Moser vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) auf Nachfrage mitteilte, sei "die Jahresstatistik über Gegenstände, die der Staatsanwaltschaft vom Zoll vorgelegt worden sind", als "nur für den Dienstgebrauch" klassifiziert und damit geheim. Moser konnte lediglich in Erfahrung bringen, dass die besagte "Jahresstatistik" regelmäßig dem Bundesministerium der Justiz vom Bundesministerium der Finanzen "übermittelt" wird.[6]

Millionen
Bekannt sind allerdings Zahlen aus den 1960er Jahren, die das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil zur Postkontrolle 1969 veröffentlichte. Damals richtete sich die Überwachungsmaßnahme vornehmlich gegen die Deutsche Demokratische Republik: "Es sind Millionen von Schriften eingezogen worden, deren größerer Teil in der DDR hergestellt wurde, neben Broschüren und Zeitschriften auch Zeitungen. Im Januar 1966 wurden von etwa 548.000 untersuchten Schriften etwa 538.000 zurückgehalten. Im Januar 1967 waren es von etwa 402.000 untersuchten Briefen etwa 392.000 Briefe, die zurückgehalten wurden."[7] An der Postkontrolle beteiligt waren zu dieser Zeit neben Zollämtern und Staatsanwaltschaften auch die von der Bundeswehr aufgestellten Einheiten für "Psychologische Kampfführung" (PSK), wie der ehemalige PSK-Offizier Thomas Mielke dem RBB mitteilte. Nach wie vor in die Postkontrolle involviert ist nach Angaben des Bundesinnenministeriums der deutsche Inlandsgeheimdienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz.[8]

Gefährdungshinweise
Dessen Präsident Heinz Fromm hat sich unlängst dafür ausgesprochen, neben der bislang üblichen Informationsgewinnung unter anderem durch den Bruch des Postgeheimnisses auch durch Folter erlangte Hinweise für die Strafverfolgung zu nutzen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat ihm darin ausdrücklich zugestimmt. Wie Fromm gegenüber der deutschen Presse ausführte, müsse allen "Gefährdungshinweisen", die die Nachrichtendienste erhielten, "nachgegangen" werden. Er fügte wörtlich hinzu: "Man sieht den Informationen im Übrigen nicht an, woher sie stammen und wie sie gewonnen wurden. Die Möglichkeit, dass sie nicht nach unseren rechtstaatlichen Grundsätzen erlangt worden sein könnten, darf nicht dazu führen, dass wir sie ignorieren."[9]

[1], [2] 6.000 Klagen gegen geplante Vorratsdatenspeicherung; www.vorratsdatenspeicherung.de
[3] Bundestag billigt Anti-Terror-Datei; Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.12.2006
[4] Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24.05.1961, Bundesgesetzblatt I 1961, 607
[5], [6], [7], [8] Entsorgte Geschichte - Die Bundeswehr und der Kalte Krieg; Radio Berlin-Brandenburg 4, 05.11.2006
[9] Fromm verteidigt Nutzung von Folter-Informationen; www.spiegel.de 04.12.2006