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14.02.2008

»Die Polizei betrieb Desinformationspolitik«

Mit dem G8-Gipfel im Juni 2007 in Heiligendamm verknüpfen die Meisten den immensen Polizeieinsatz vor Ort, den 13 Kilometer langen Hochsicherheitszaun und die vielfältigen Proteste gegen das Treffen.
Kaum wahrgenommen wurden die über hundert Rechtsanwälte aus ganz Europa, die die polizeilichen und rechtlichen Maßnahmen beobachteten und versuchten, die Rechte der Demonstranten vor Ort zu verteidigen. In dem kürzlich erschienen Buch »Feindbild Demonstrant. Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation. Der G8-Gipfel aus Sicht des Anwaltlichen Notdienstes« (Assoziation A) wird eine erste Bilanz der Gipfeltage und ihrer rechtlichen Konsequenzen gezogen.

Der Antiberliner sprach mit dem Berliner Anwalt Peer Stolle, der selbst vor Ort aktiv war und sich seit Jahren beim RAV engagiert.

In diesen Tagen ist das Vorgehen der Polizei gegenüber Gegnern des G8-Treffens in Heiligendamm wieder präsent. Anlass dafür ist der Beschluss des Bundesgerichtshofes (BGH), welcher die Razzien im Vorfeld des G8-Treffens als unrechtmäßig erklärt. Wie ist dieser Beschluss einzuschätzen?

Der Beschluss ist eine weitere Ohrfeige für die Bundesanwaltschaft (BAW). Zum fünften Mal in Folge werden Anti-Terror-Maßnahmen für rechtswidrig erklärt.

Der BGH hat deutlich gemacht, dass die BAW überhaupt nicht zuständig gewesen ist, da es an einem Tatverdacht auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gefehlt hat. Der Paragraph 129 (kriminelle Vereinigung) alleine könne die Zuständigkeit nicht begründen. Darüber hinaus hat der BGH deutlich gemacht, dass er nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte sieht, dass es sich bei der »militanten kampagne« überhaupt um eine Vereinigung im Sinne des Paragraph 129 StGB handelt. Das gesamte Konstrukt, das von BAW, BKA und auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz zusammengezimmert wurde, ist in sich zusammengefallen.

Euer Buch heißt »Feindbild Demonstrant«. Wodurch zeichnet sich dieses Feindbild deiner Meinung nach aus?

Feindbilder dienen vor allem dazu, bestimmte Personen(-gruppen) auszuschließen, indem sie mit dem Stigma eines »Feindes« versehen werden. Darüber hinaus haben sie den Zweck, eine Solidarisierung der Bevölkerung mit demjenigen, der das Feindbild produziert – in diesem Fall der Staat – zu erreichen. Die betroffenen Personen sollen also nicht nur als »Feinde des Staates«, sondern als »Feinde der Gesellschaft« angesehen werden. Erst dann können außerordentliche und zum Teil auch extralegale Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung legitimiert werden.

In eurem Buch sprecht ihr von Medienmanipulation, die im Rahmen des G8 stattgefunden hat. Woran ist diese festzumachen?

Die polizeiliche Einsatzleitung Kavala hat vor, während und nach dem Gipfel eigene Pressearbeit gemacht und damit eine Desinformationspolitik betrieben.
Mit den eindeutigen Falschmeldungen, die von Kavala herausgegeben wurden – Säureattacken durch die Clowns-Army, Molotowcocktails bei den Blockaden, Anzahl der schwerverletzten Polizisten etc. – wurde aber nicht nur in der Öffentlichkeit versucht, das oben beschriebene Feindbild zu bestätigen. Diese Meldungen flossen auch in gerichtliche Entscheidungen mit ein, bspw. in die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Sternmarschverbot oder in Gewahrsamsbeschlüsse des Amtsgerichts Rostock. Mit dieser Form der Pressearbeit wurde das Handeln der Judikative gelenkt.

Wo siehst du die konkreten Problemlagen der polizeilichen und rechtlichen Maßnahmen, die im Rahmen des G8-Gipfels stattgefunden haben?

Neu am polizeilichen Einsatz war der Aufbau einer mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Sonderpolizeibehörde, die sich jeglicher rechtlicher und politischer Kontrolle entziehen konnte, der Einsatz von militärischem Gerät und die Etablierung von Sonderrechtszonen. Rechtliche Vorgaben oder Bindungen existierten nicht mehr.

Eure Arbeit in Heiligendamm wurde Ende des Jahres durch den Preis »pro reo« der AG Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins und durch die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte ausgezeichnet. Welche realen Interventionsmöglichkeiten hattet ihr vor Ort?

Wir waren mit mehr als 100 Kollegen vor Ort. Von vielen habe ich gehört, dass sie das kollektive und solidarische Zusammenarbeiten als sehr positive und aufbauende Erfahrung ansehen. Wir wurden von vielen Seiten unterstützt. Natürlich wurden wir in unserer eigentlichen Arbeit auch massiv behindert. Wenn man mit 15 Kollegen vor der Gefangensammelstelle (GeSa) steht und genau weiß, dass dort über 100 Personen festgehalten werden und man nicht reinkommt, dann ist das schon frustrierend. Aber insgesamt würde ich das alles schon als positive Erfahrung werten.

Welche Bilanz ziehst du heute?

Der Gipfel hat gezeigt, dass der Schwerpunkt der polizeilichen Einsatzstrategie darauf beruht, Menschen von der Wahrnehmung ihrer Grundrechte abzuhalten, bzw. sie an deren Ausübung zu hindern. Auf diese präventive Strategie muss sich eingestellt werden – durch eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit, mit der die Produktion von Feindbildern durchkreuzt werden kann, durch eine selbstbewusste Protestbewegung, die sich immer wieder neu ihre Rechte erkämpft und durch anwaltliche Arbeit, die aktiv ist und nicht erst eingreift, wenn es schon zu spät ist.

Antiberliner Nr. 16

Source: www.antiberliner.de